NS-Dokumentationszentrum Mannheim: Eine unbequeme Wahrheit
Wie braun war Mannheim? Das neue Dokumentationszentrum beleuchtet mit multimedialer Ausstellung das dunkelste Kapitel der Stadt.
Mannheim im Jahr 1933. Gerade ist die NSDAP an die Macht gekommen und in der Stadt wehen die Hakenkreuzflaggen. Der 19-jährige Otto Hirschler flüchtet mit seiner Familie vor den brutalen Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung. Die junge Martha Kramer erlebt die Verhaftungen ihrer kommunistischen Freund:innen. Und Willi Körbel – Journalist beim NS-Blatt Hakenkreuzbanner und radikaler Ideologe, der eine steile Karriere bei der SA machen wird – freut sich über eine verheißungsvolle Zukunft, die er mit dem NS-Regime anbrechen sieht.
Diese echten Mannheimer:innen treten, verkörpert von Schauspieler:innen, lebensgroß in einer Videoinstallation auf. Dazu sind Fotografien, Dokumente und Filmausschnitte aus der Zeit um 1933 zu sehen. Hier zuzuschauen, ist ein bisschen wie im Kino zu sitzen. Von dramatischer Musik begleitet, berichten sie, wie sie die neue Zeit in Mannheim erleben. Ihre und weitere Lebensgeschichten bilden das Herzstück der jetzt eröffneten Dauerausstellung im neuen NS-Dokumentationszentrums des Mannheimer Stadtarchivs Marchivum.
Die Protagonist:innen tauchen immer wieder auf, auch schon im Prolog, der sich mit der fragilen Zeit der Weimarer Republik in der sozialdemokratisch regierten Industriestadt beschäftigt. Dort erinnert sich etwa Martha Kramer in einem Hörstück an ihre Kindheit im Mannheimer Arbeitermilieu der 1920er Jahre. Die Ausstellung nimmt die Perspektive gewöhnlicher Leute ein, auch die jener, die für den Nationalsozialismus und seine Rassenideologie brannten.
Damit erzählt sie von einer unbequemen Wahrheit: Auch gewöhnliche Leute ebneten den Weg für den Holocaust. Nicht nur die berühmten Täter:innen wie der Mannheimer Nazi Rudolf Höß, der als Lagerkommandant von Auschwitz federführend die Ermordung der dorthin Deportierten in den Gaskammern organisierte.
Konsequent digital
Über Höß und andere Täter:innen erfährt man mehr in einer der „Vertiefungsstationen“, an denen man Material per Touchscreen aufrufen kann. Überhaupt ist die Präsentation konsequent digital ausgerichtet: Sie kommt ganz ohne Vitrinen und Originaldokumente aus. Ein interdisziplinäres Kurator:innenteam hat die Schau in vier Jahren entwickelt, rund 3,7 Millionen Euro kostete sie.
Im dramatischen Dunkel – das Marchivum befindet sich hinter den dicken Wänden eines von NS-Zwangsarbeiter:innen gebauten Weltkriegsbunkers – sind die Besucher:innen bei schummrigem Licht von Screens und Projektionen umgeben.
Der kanadisch-jüdische Medienkünstler Stacey Spiegel wurde eingeladen, die Ausstellung mitzugestalten. Er steuerte raumgreifende Medieninstallationen bei. Eine davon ist den Mannheimer Jüdinnen und Juden gewidmet, die im französischen Internierungslager in Gurs, der „Vorhölle zu Auschwitz“, starben.
Die Animation zeigt unter Wasser treibende Fotoporträts der Opfer. Zu leisen Klängen liest eine weibliche Stimme fast flüsternd die Namen der Toten. Mit den Transporten nach Gurs fand in Mannheim 1940 eine der ersten Massendeportationen überhaupt statt. Wer Gurs überlebte, fand später den Tod sehr wahrscheinlich in einer der Gaskammern von Auschwitz.
Mannheim war „rote“ wie „braune Hochburg“
Von den brutalen Übergriffen der Novemberpogrome in Mannheim im Jahr 1938 sind zwar Berichte überliefert, aber keine Fotografien. Ausgewählte Szenen hat der kanadische Künstler Kevin Myers als Graphic Novel inszeniert. Etwa die Verhaftung eines jüdischen Mannes, die Zerstörung eines Geschäfts, die Verbrennung von Büchern und Thorarollen in der Innenstadt, das Zerstören von Synagogen. An einer Hörstation werden die Szenen kontextualisiert.
Gründlich räumt die Ausstellung mit dem Narrativ vom widerständigen Mannheim auf, das in der jungen Bundesrepublik lanciert wurde. Die Stadt sei gleichermaßen eine „rote“ wie „braune Hochburg“ gewesen, steht in einem der begleitenden Texte. Schon 1921 bildete sich hier eine der allerersten NSDAP-Ortsgruppen im damaligen Baden. SA-Gruppen schossen wie Pilze aus allen Ecken der Quadratestadt.
Eine ergreifende Projektion erzählt vom Herweck-Bad, einem der schönsten Strandbäder am Mannheimer Rheinabschnitt. Zahlreiche Jüdinnen und Juden schwammen hier, der private Besitzer erlaubte das auch nach Erlass der Nürnberger Gesetze im Jahr 1935 noch. In Zivil auftretende SA-Leute prügelten brutal auf jüdische Badende ein. Fotografien zeigen Kinder, die schreiend, barfuß und in Badeanzug gekleidet aus dem Bad rennen.
Bewegend ist auch die Projektion zum Leben von Betty Franz. Weil sie mit einer Heimwehdepression von einem Aufenthalt in den USA zurückkam, wo sie als Kindermädchen gearbeitet hatte, wurde sie in Mannheim als junge Frau zwangssterilisiert. Um die „Reinhaltung des gesunden Volkskörpers“ zu gewährleisten, erließen die Nationalsozialisten schon 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Es wurde zur Grundlage für eine halbe Million Zwangssterilisationen.
Interaktiv mit Wissenstest
Adolf Hitler besuchte Mannheim das erste Mal 1928. Er sprach im überfüllten „Nibelungensaal“ in der Festhalle Rosengarten. An einer Hörstation sind nachgesprochene Passagen aus seiner Rede abrufbar, außerdem Zeitungsberichte. Im auflagenstarken nationalsozialistischen Blatt Der Führer war zu lesen: „Die Begeisterung stieg zum Siedepunkt, als sich die Saaltüren öffneten und ein Regiment Braunhemden unter den Klängen des bayrischen Präsentiermarsches einmarschierte. Als Hitler kam, sprang die ganze Riesenversammlung auf wie ein Mann und raste Beifall. Als er nach zwei Stunden beendet hatte, sang die Versammlung spontan das Deutschlandlied.“
Die sozialdemokratische Zeitung Die Volksstimme hingegen berichtete, nicht nur die Anhänger:innen der Hitlerbewegung seien gekommen, sondern auch ihre Gegner:innen. Hitlers Auftritt sei schwach gewesen, seine Rede „geistlos wie das Gestammel seiner Agitatoren zweiter Garnitur“. So gibt die Schau auch Einblicke in die komplexe Quellenlage.
Weitere Informationen zum NS-Dokumentationszentrum Mannheim unter: www.marchivum.de/
Die Ausstellung endet mit einer wie das Set einer TV-Quizshow anmutenden begehbaren Spielstation, an der Besucher:innen in einem Wissenstest gegeneinander antreten können. An der „Collection Wall“ lässt sich über einen Touchscreen Material aus der Zeit nach 1945 bis in die Gegenwart aufrufen.
Eines der Bilder zeigt bei einer Razzia in der Nähe von Mannheim im Jahr 1994 beschlagnahmtes Material: Hakenkreuzfahnen und 29 Aktenorder mit volksverhetzenden Schriften. Hier können sich Besucher:innen vielleicht die im Ausstellungstitel gestellte Frage „Was hat das mit mir zu tun?“ beantworten.
Die Collection Wall soll weiter wachsen, auch der Rest der Ausstellung lässt sich um Ergebnisse aus der laufenden Forschung ergänzen. Geforscht wird zum Beispiel zu den Kontinuitäten der NS-Ideologie in der Bundesrepublik.
Während viele der berühmten Täter:innen zur Rechenschaft gezogen wurden – Höß wurde in Auschwitz spektakulär hingerichtet, am Galgen mit Blick auf das Lager –, integrierten sich Nazis wie Willi Körbel nach 1945 nahtlos in die Gesellschaft. Er wurde ein angesehener Unternehmensberater und schrieb Bücher. Otto Hirschler gelang die Flucht nach Argentinien. Aus dem Exil kehrte er nie zurück.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind