NS-Archiv in den Niederlanden: Datenschutz bremst Digitalisierung
Die Niederlande wollen eine umfangreiche Dokumentensammlung über NS-Kollaborateure digital zugänglich machen. Daraus wird erst mal nichts.
![Eine Frau steht zwischen zwei Regalen eines Archivs Eine Frau steht zwischen zwei Regalen eines Archivs](https://taz.de/picture/7444097/14/Niederlande-Nationalarchiv-Digitalisierung-1.jpeg)
Doch daraus wird vorläufig nichts. Grund dafür sind Bedenken bezüglich der Privatsphäre von Personen, die in dem 3,8 Kilometer langen Centraal Archief Bijzondere rechtspleging (CABR) Erwähnung finden. Vorgebracht werden sie von der unabhängigen Datenschutzbehörde Autoriteit Persoonsgegevens (AP). Diese findet, die Öffnung verstoße gegen gesetzliche Bestimmungen. Auf ihrer Website heißt es, das betreffende Material enthalte strafrechtlich relevante Details womöglich noch lebender Personen – sowohl von Verdächtigen wie von deren Opfern – und persönliche Dokumente wie Tagebücher, Briefe oder Fotos. Die könne man nicht einfach digital zugänglich machen.
„Dieses Archiv ist von großer gesellschaftlicher Bedeutung und bietet neue Möglichkeiten, um dahinter zu kommen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Aber die Art, wie das Nationalarchiv das CABR online zugänglich machen will, verstößt gegen das Archivgesetz und die Datenschutzverordnung“, begründet die Behörde ihre Entscheidung. Empfindliche Informationen könnten dabei öffentlich Verbreitung finden, etwa über soziale Medien. „Diese unbegrenzte Zugänglichkeit bringt alles in allem unnötig große Privatsphärenrisiken mit sich.“
Immerhin: Persönlich vor Ort eingesehen werden können die betreffenden Akten beim Zentralarchiv dagegen von nun an wie geplant. Auch das eine Neuerung ab diesem Jahr, denn bisher konnten nur Wissenschaftler*innen, Betroffene oder deren Familien einen Antrag auf Akteneinsicht stellen. Nun kann das jede*r tun. Entsprechend großes Medieninteresse herrschte im Foyer des Archivs am ersten Arbeitstag nach Neujahr. Afelonne Doek, die als Allgemeine Reichsarchivarin auch mit an der Spitze des Archivs steht, ging in einer kurzen Ansprache auf die ambivalente Situation ein und betonte, früher oder später werde das größte Kriegsarchiv des Landes wie geplant auch allgemein online zugänglich sein.
„Öffentlichkeit von Informationen ist ein wichtiger Aspekt in einer demokratischen Gesellschaft und trägt zur Transparenz bei, damit Bürger*innen das Handeln des Staats nachvollziehen können. Archive sind dabei äußerst bedeutsam um die Vergangenheit zu verstehen“, so Doek. Dass die vollständige Öffnung vorerst „aufgeschoben“ sei, bedauert sie. „Ich hätte es uns allen gegönnt, als Gesellschaft und individuell, diese schwierige Vergangenheit zu verarbeiten und auch heiklen Fragen ins Gesicht zu sehen.“
Wie eine Sprecherin des Archivs der taz sagte, begrüße man die Initiative des zuständigen Ministers für Bildung, Kultur und Wissenschaft, Eppo Bruins. Dieser hatte im Dezember eine Änderung des Archivgesetzes in Aussicht gestellt, um im Zweifelsfall entscheiden zu können, ob Privatsphäre oder der öffentliche Zugang zu Archiven schwerer wiegen. „Dieses Kriegsarchiv ist von unschätzbarem Wert für historische Forschung, das Lebendighalten der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und für Angehörige, die auf der Suche nach Informationen sind“, kommentierte der Minister.
Afelonne Doek, Reichsarchivarin
Bei der Abwägung, die Bruins hier erwähnt, handelt es sich freilich nicht nur um einen prinzipiellen, technischen Zielkonflikt. Das Thema Kollaboration hat auch 80 Jahre nach der Befreiung noch gehöriges Sprengpotenzial – in einer Gesellschaft, die sich die Mär der kollektiven Tätigkeit im Widerstand gegen die nazideutsche Besatzung allzu lange selber glauben wollte. Dabei war Kollaboration und der Verrat von Jüdinnen und Juden gegen Kopfgeld weit verbreitet. Mit rund 102.000 Ermordeten, drei Viertel der jüdischen Bevölkerung, hatten die Niederlande die relativ höchste Opferzahl im besetzten Westeuropa.
Die verzögerte Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld wiederum führte dazu, dass die Frage, wer während des Kriegs „fout“ war, also auf der falschen, nämlich der deutschen Seite stand, nach wie vor heikel ist. Gerade in kleinen, ländlichen Gemeinschaften, in denen die Öffnung des Archivs durchaus für Anspannung sorgt. Die Bezeichnung „NSBler“ – verweisend auf die damalige Nationaal-Socialistische Beweging – wird bis heute als Schimpfwort verwendet.
Öffentliche Diskussion als heilsam
Gerade vor diesem Hintergrund, so die besagte Archiv-Sprecherin, könne die völlige Öffnung der Akten dafür sorgen, dass eine gesellschaftliche Diskussion in Gang käme, die einen heilsamen Charakter habe. Helfen soll dies zudem auch Angehörigen von Opfern, die zu alt sind, um persönlich nach Den Haag zu fahren oder sich eine Reise nicht leisten könnten.
Margo Weerts, Direktorin der jüdischen Wohlfahrtsstelle Joods Maatschappelijk Werk (JMW) und Mitglied im Ethikbeirat des Digitalisierungsprojekts, erklärte unlängst in der jüdischen Zeitschrift Nieuw Israëlitisch Weekblad: „Die Leute wollen nicht nur wissen, wer ihre Familie verraten hat, sondern sie suchen auch nach jedem bisschen Information über das Schicksal ihrer Familie in der Schoah.“
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