NRW-Schulministerin über Personalmangel: „Es muss alles auf den Prüfstand“
In NRW schneiden Kinder in Mathe und Deutsch schlecht ab, es fehlen tausende Lehrkräfte. Was plant die neue Schulministerin Dorothee Feller?
taz: Frau Feller, das Schulministerium in Nordrhein-Westfalen scheint Unglück zu bringen. Der FDP hat es dieses Jahr die Niederlage bei der Landtagswahl eingebracht, wie zuvor schon den Grünen 2017. Es klingt nicht sehr einladend, nach ein paar Jahren im Amt als Sündenbock für eine Wahlschlappe dazustehen. Warum gehen Sie dieses Risiko ein?
Dorothee Feller: Bildung ist für mich eines der wichtigsten Themen überhaupt. Wir leben in einer Zeit vieler Krisen: die Pandemie, der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise mit all ihren Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft. Um diese Krisen zu bewältigen, brauchen wir in allen Bereichen gut ausgebildete Menschen. Wir brauchen die Dichter und Denker, wir brauchen die Handwerkerinnen und Handwerker und wir brauchen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deshalb müssen wir allen jungen Menschen eine gute Bildung ermöglichen. Es geht um die Zukunft unserer Kinder und unserer Gesellschaft insgesamt.
56 Jahre, ist seit Ende Juni 2022 Ministerin für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen. Zuvor war die Juristin gut zwanzig Jahre in der Bezirksregierung Münster tätig, zuletzt als Regierungspräsidentin. Feller ist seit 2017 Mitglied der CDU und seit 2019 im Bundesvorstand der Frauen Union Deutschland.
Ihre Partei- und Amtskollegin Karin Prien aus Schleswig-Holstein hat vor dem letzten Bundesparteitag gefordert, dass die Union wieder stärker die Bildungspolitik für sich reklamieren muss. In Nordrhein-Westfalen hat sich niemand um das Schulministerium gerissen, auch Ihre Partei nicht. Kann man in NRW mit Bildungspolitik nur verlieren?
Für Ministerpräsident Hendrik Wüst und die gesamte Landesregierung ist Bildung sehr wichtig. Gleich in seiner ersten Regierungserklärung hat der Ministerpräsident die zentralen Themen benannt: Bildung, Klima und innere Sicherheit. Als NRW-CDU legen wir also einen klaren Schwerpunkt auf die Bildung unserer Kinder und Jugendlichen. Dieser Aufgabe widme ich mich gerne und mit voller Kraft.
Sie treten ein schweres Erbe an. Der jüngste IQB-Bildungstrend zeigt, dass Schüler:innen aus Nordrhein-Westfalen mittlerweile fast zu den Schlusslichtern Berlin und Bremen abgerutscht sind. Was ist Ihre Erklärung dafür?
Die Studie ist ein deutliches Alarmsignal, dass sich im ganzen Land und auch in Nordrhein-Westfalen etwas ändern muss. Zwar hängen die Ergebnisse dieser IQB-Studie auch mit den pandemiebedingten Schulschließungen zusammen. Ein negativer Trend war jedoch schon vorher zu beobachten. Nordrhein-Westfalen ist bei dieser Studie zum dritten Mal in Folge im unteren Drittel gelandet. Deshalb muss jetzt alles auf den Prüfstand.
Was heißt das?
Wir setzen einen Schwerpunkt im Bereich der Grundschulen. In der vergangenen Legislatur haben wir in Nordrhein-Westfalen bereits den „Masterplan Grundschule“ entwickelt. Dazu gehört eine Fachoffensive für Mathematik und Deutsch. Jetzt müssen wir prüfen, warum die Maßnahmen noch nicht die gewünschte Wirkung zeigen. Gegebenenfalls müssen wir unsere Lehrkräfte noch besser unterstützen, zum Beispiel mit gezielten Fortbildungsangeboten. Unter anderem darüber habe ich schon mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gesprochen, die an der IQB-Studie beteiligt waren.
Länder wie Hamburg haben bewiesen, dass ein überdurchschnittlich hoher Anteil an zugewanderten Familien nicht automatisch zu schlechteren Schulleistungen führt. Was können Sie davon für NRW lernen?
Wir müssen wirklich jedes Talent individuell fördern. Das gilt insbesondere für sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler. Dazu schauen wir auch, was andere Länder schon besser machen. Das betrifft vor allem die Bereiche Lesen, Schreiben und Rechnen. Mit Hamburg, das sich bei der IQB-Studie gegen den bundesweiten Trend positiv entwickelt hat, sind wir bereits im Austausch und ich würde sagen: Hier ist das Abschreiben ausdrücklich erlaubt.
Hamburg stattet Schulen mit besonders vielen förderbedürftigen Kindern besser aus als andere. NRW verteilt seit letztem Schuljahr zusätzliche Lehrerstellen auch nach diesem Prinzip – Sie wollen das Modell laut Koalitionsvertrag aber noch weiterentwickeln. Was planen Sie da konkret?
Zum laufenden Schuljahr sind rund 5.900 zusätzliche Stellen über den Schulsozialindex verteilt worden. Im nächsten Schritt wollen wir evaluieren, ob dabei tatsächlich die besonderen Bedarfe der Schulen ausreichend berücksichtigt wurden. Dazu muss man wissen: In vielen Regionen sind die Schulen nicht schlecht ausgestattet. Es gibt aber Regionen, da ist dies der Fall. Das betrifft Teile des Ruhrgebiets, aber auch ländliche Räume. Wenn es um zusätzliche Ressourcen geht, werden wir die Schulen in diesen Regionen weiterhin gezielt in den Blick nehmen.
Neue Stellen zu schaffen bedeuten nicht automatisch, sie auch besetzen zu können. Im Sommer sind in Ihrem Bundesland 4.400 Lehrerstellen unbesetzt geblieben. Dennoch versprechen Sie, 10.000 zusätzliche Lehrkräfte zu gewinnen. Wie wollen Sie das schaffen?
Der Fachkräftemangel kann leider nicht von heute auf morgen behoben werden. Wir brauchen daher einen Mix aus kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen. Gleich nach meinem Amtsantritt habe ich eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die bis zum Jahresende solche Maßnahmen entwickeln soll. Darüber hinaus stehen wir bereits im engen Austausch mit dem Wissenschafts- und dem Finanzministerium, um mehr Studienplätze für das Grundschullehramt und die Sonderpädagogik zu schaffen. Mittel dafür sind bereits im Haushaltsentwurf 2023 vorgesehen. Klar ist aber, dass es einige Jahre dauert, bis die zusätzlichen Studienplätze zu mehr Personal an Schulen führen. Deshalb müssen wir auch über andere Ideen nachdenken.
Sachsen-Anhalt setzt mittlerweile Masterstudierende im Unterricht ein, Brandenburg will auch Seiteneinsteiger verbeamten, Berlin rekrutiert Pensionäre. Können Sie sich solche Schritte auch für NRW vorstellen?
Ich bin offen für alle Vorschläge, mit denen wir die Situation an unseren Schulen wirklich verbessern. Entscheidend ist für mich, dass unsere Lehrerinnen und Lehrer sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren können: guten Unterricht. Pensionäre sprechen wir natürlich in Nordrhein-Westfalen auch schon an, denn es handelt sich bei ihnen meist um grundständig ausgebildete Lehrkräfte. Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger, die unseren Schulen kurzfristig weiterhelfen können, müssen wir gut begleiten und für ihre Aufgaben in der Schule mit dem pädagogischen Rüstzeug ausstatten.
Vor Kurzem haben Sie angekündigt, alle Lehrkräfte bis 2026 auf die Gehaltsstufe A13 zu stellen – also wie Gymnasiallehrer:innen zu bezahlen. Ist das ein Zugeständnis an Ihren neuen Koalitionspartner, die Grünen? Als die Union mit der FDP regierte, war sie noch gegen A13 für alle.
Bereits im Landtagswahlkampf hat sich die NRW-CDU für die Anhebung ausgesprochen. Ich bin froh, dass wir unser Versprechen einlösen und A13 noch in den ersten hundert Tagen unserer Amtszeit auf den Weg bringen konnten. Damit haben wir ein deutliches Zeichen der Wertschätzung für die Arbeit unserer Lehrkräfte gesetzt. Und es ist übrigens auch ein Zeichen, wie wichtig uns die Schul- und Bildungspolitik ist, dass wir vor dem Hintergrund der krisenbedingt angespannten Haushaltslage das Versprechen A13 einlösen. Das ist nicht selbstverständlich. Allein bis 2026 werden die Kosten dafür rund 900 Millionen Euro betragen.
Apropos Geld: Ab dem Schuljahr 2024/25 will die Bundesregierung 4000 Schulen mit zusätzlichem Geld und Personal unterstützen. Dafür müssen sich Bund und Länder aber einigen, wie genau die Mittel verteilt werden – zielgerichtet oder nach Gießkanne. Was halten Sie für die beste Lösung?
Dafür, wie eine gute Verteilung aussehen könnte, werden auf Länderebene gerade Vorschläge erarbeitet. Der Sozialindex ist sicher ein Instrument, das Orientierung geben kann. Noch wichtiger ist allerdings, dass das Programm 2024 wirklich kommt, denn ursprünglich war es vom Bund bereits für das kommende Jahr angekündigt.
Glauben Sie, dass sich die Länder untereinander auf ein Modell verständigen können? Für Bayern oder Baden-Württemberg wäre der Königsteiner Schlüssel lukrativ, bei dem Einwohnerzahl und Steueraufkommen entscheiden. Für Bremen oder Berlin wäre das dagegen ungünstig.
Der Königsteiner Schlüssel ist sicherlich ein aus vergangenen Programmen bekanntes und durchaus bewährtes Instrument. Beim Startchancenprogramm könnte man ergänzend auch noch weitere Kriterien in den Blick nehmen; über die genauen Modalitäten für eine Mittelverteilung sind die Länder im konstruktiven Austausch.
Bildungsforscher:innen empfehlen ausdrücklich, ein anderes Modell zu finden.
Das Geld muss an den Schulen ankommen, die es benötigen. Dieses Ziel eint alle Beteiligten. Daher will ich dem Abstimmungsprozess nicht vorgreifen.
Wo sehen Sie neben fehlender Chancengleichheit und Personalmangel noch dringenden Handlungsbedarf in Nordrhein-Westfalen?
Die Digitalisierung ist ein Thema, in dem wir zu einer nachhaltigen Finanzierung kommen müssen. Ein zweites Thema ist die berufliche Bildung. Da müssen wir etwa den Übergang von Schule und Beruf noch besser organisieren, damit die jungen Menschen die weiteren Berufswege einschlagen können, die am besten zu ihnen passen. Ein wichtiges Thema für mich ist auch die Demokratiebildung, nicht zuletzt im Angesicht von antisemitischen Anschlägen und Radikalisierungstendenzen. Wenn wir wie in Nordrhein-Westfalen und anderen Bundesländern das Wahlalter für Landtagswahlen auf 16 runtersetzen wollen, muss die politische Bildung fester Bestandteil in unseren Schulen sein.
Ihre Vorgängerin Yvonne Gebauer (FDP) hat den Schüler:innen und Eltern eine Unterrichtsgarantie ausgesprochen. Was versprechen Sie?
Wichtiger als Schlagworte sind für mich Ergebnisse. Und die stellen sich am ehesten ein, wenn wir die vielen Herausforderungen peu à peu abarbeiten und unseren Schulen damit wieder ein Stück weit Ruhe zurückgeben. Wenn sich unsere Lehrerinnen und Lehrer künftig wieder darauf konzentrieren können, guten Unterricht für ihre Schülerinnen und Schüler gezielt zu machen, hätten wir schon eine Menge erreicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!