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Mythen und Klischees über FrankreichVon Amélie bis Käse

Sorgenfrei und unbeschwert, so zumindest ist das Image des Nachbarn. Aber was für ein Frankreich wählt im April ein neues Staatsoberhaupt? Ein Update.

Französische Realität: Die Landflucht hält an und Paris wird immer mehr zur „Wasserkopfmetropole“ Foto: Violeta Santos Moura/reuters

Paris taz | Leben wie Gott in Frankreich: Diese Redewendung stand lange Zeit für ein sorgenfreies, unbeschwertes Dasein, für Leichtigkeit und Esprit. Tatsächlich sind die Alltagsrealitäten beim großen Nachbarn im Westen aber längst nicht mehr so paradiesisch, wie altgediente Wunschbilder der „großen Nation“ es erzählen. Tiefe Risse ziehen sich durch die französische Gesellschaft – und werden auch die kommende Regierung wieder vor heikle Probleme stellen. Höchste Zeit, in einigen Klischees herumzustochern und etwas Luft aus ihnen herauszulassen.

Das „liebliche“ Frankreich

Eines der berühmtesten französischen Chansons, gesungen von Charles Trenet, ist 1943 entstanden, zur Hochphase des Zweiten Weltkriegs. Im Refrain reimt sich der Titel „Douce France“ („liebliches Frankreich“) auf „Pays de mon enfance“ – „das Land meiner Kindheit“. Es handelt sich um eine melodiöse Erinnerung an die Vergangenheit, die Beschwörung einer Epoche, in der Frankreich glücklich und die Welt allgemein angeblich noch in Ordnung war.

Solche Nostalgie war in Frankreich stets erfolgreich, und sie ist es heute noch. Nicht nur die identitäre Rechte geht jetzt mit solchen rückwärtsgewandten Mythen auf Stimmenfang, auch die nationalistischen Populisten nehmen gern Bezug auf eine demagogisch verbrämte oder krass revidierte Geschichte. Aber wie „lieblich“ ist ein Land, das sich selbst gern als „Wiege der Menschenrechte“ feiert, in dem jedoch laut Wahlumfragen ein Drittel der Stimmberechtigten von den rassistischen Parolen der extremen Rechten angezogen wird?

Und überhaupt: Ließ es sich früher wirklich besser leben in Frankreich? Weil vor Jahrzehnten die Migranten eher aus Maghrebstaaten oder Afrika kamen und weniger aus Polen, Italien oder Griechenland? Weil die katholische Kirche noch strikt die Moral diktierte und nicht islamische Extremisten die religiöse Toleranz einer weltlichen Gesellschaft strapazierten? Diese Fragen sind absurd, aber die Sehnsucht nach einer Nation in der Gestalt einer heilen Familie ist real und wird darum in der Politik wieder weidlich ausgeschlachtet – und nicht nur dort.

Die fabelhafte Welt der Amélie

Denn die Nostalgie dient auch der Tourismuswerbung – etwa im Stil des Films „Die fabelhafte Welt der Amélie“. Sicher: Provinzielle Idyllen existieren in ländlichen Regionen nach wie vor, einmalige Landschaften, historische Dörfer und ungezählte Monumente. Seit Jahren hält Frankreich einen Spitzenrang unter den beliebtesten Reiseländern weltweit. Doch dieses Frankreichbild wird immer fiktiver: Die Landflucht hält unvermindert an, in vielen kleinen Kommunen gibt es keine Arztpraxis mehr, kein Café, keine Post, oft nicht mal mehr eine Boulangerie, in der man Brot kaufen kann. Wer Karriere machen will, den zieht es sowieso nach Paris. Die Hauptstadt ist und bleibt das Zentrum der Macht, der Wirtschaft, der Kultur, der Mode, der Bildung – eine konstant wachsende „Wasserkopfmetropole“.

Der Turbotraum des TGV

Der Hochgeschwindigkeitszug – TGV steht für „train à grande vitesse“ – ist seit Jahrzehnten das Symbol für den französischen Wunsch, technologisch zu den führenden Nationen zu zählen. Frankreich ist ein Land von Tüftlern und Erfindern, die es aber oftmals nicht verstehen, ihre Ideen erfolgreich auf dem internationalen Markt zu verkaufen. So wurde der Vorläufer des Homecomputers, der „Minitel“, schon in den 1980ern in Frankreich ein weit verbreitetes Kommunikationsmittel, doch der Rest der Welt hat diese Erfindung weitgehend ignoriert. Andere Technologien, wie der Atombrüter „Superphénix“, erwiesen sich als Sackgasse, und die Inbetriebnahme des europäischen Druckwasserreaktors EPR, der in Flamanville am Ärmelkanal 2012 ans Netz gehen sollte, wurde mittlerweile schon öfter verschoben als der Berliner Flughafen.

La „Grande Nation“

Vielleicht wird Frankreich eines Tages doch wieder zu einer „großen Nation“ – wenn man die Demografie dafür heranzieht. Bis zum Zweiten Weltkrieg stagnierte die Bevölkerungszahl lange Jahrzehnte bei um die 40 Millionen. Heute leben in Frankreich rund 65 Millionen Menschen. Dank einer durchschnittlichen Geburtenrate von 1,83 (in Deutschland: 1,54) und dem Zuwachs durch die Immigration könnte Frankreich in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts Deutschland demografisch überrunden.

Das ehemalige koloniale Weltreich ist einstweilen zwar enorm geschrumpft, doch noch immer erstreckt sich das französische Territorium wegen der Überseegebiete in der Karibik, im Indischen Ozean, im Südpazifik und auf dem südamerikanischen Subkontinent rund um den Globus.

Bis heute fühlt sich die ehemalige Kolonialmacht verpflichtet, in ihrem „afrikanischen Hinterhof“ als Gendarm für Ordnung zu sorgen und damit, en passant, auch französische Interessen durchzusetzen.

Die 35-Stunden-Woche

Dass die Französinnen und Franzosen weniger arbeiten als ihre deutschen Nachbarinnen und Nachbarn, ist ein Vorurteil, das sich selbst in Frankreich hartnäckig hält. Im Jahr 2000 wurde dort die 35-Stunden-Woche eingeführt. Laut einer OECD-Studie betrug 2015 die jährliche Arbeitszeit französischer Arbeitnehmer jedoch stolze 1.482 Stunden gegenüber nur 1.371 in Deutschland.

Zutreffend ist dagegen, dass in Frankreich viel häufiger gestreikt wird. Mit 114 Streiktagen pro 1.000 Arbeitnehmer im Privatsektor kann sich Frankreich vor Belgien (91) oder Deutschland (18) als Weltmeister der lautstark geäußerten sozialen Unzufriedenheit feiern.

Politik ist doch Käse …

„Wie wollen Sie ein Land regieren, in dem es 258 Käsesorten gibt?“ Diese Frage hat sich der Hitler-Gegner und spätere französische Präsident Charles de Gaulle einmal öffentlich gestellt. Und er kannte Frankreich und dessen Bevölkerung sicher so gut wie nur wenige.

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Dass de Gaulle bis heute mehr als alle anderen historischen oder zeitgenössischen Persönlichkeiten die Integrationsfigur der französischen Nation schlechthin geblieben ist, hat damit zu tun, dass er wusste, wie rach- und streitsüchtig seine Landsleute sein können. Vor allem mit ihren Machthabern legen die Französinnen und Franzosen sich gern an, nicht erst seit den Revolutionstagen von 1789, sondern schon seit Cäsars Feldzug gegen die Gallier. Voilà, ein Klischee, das Bestand hat.

… Macht ist letztlich alles

Als Charles de Gaulle 1958 mit einem vom Parlament abgesegneten Quasi-Staatsstreich an die Macht (zurück)kehrte, diktierte er dem Land seine Regeln: Mit einer neuen Verfassung schuf er die sogenannte Fünfte Republik. Dabei ließ er das Wahl- und Staatssystem auf seine Bedürfnissen zuschneiden und stattete das Präsidentenamt mit einer üppigen Machtfülle aus. Frankreichs Bewohnerinnen und Bewohner bezeichnete Charles de Gaulle insgeheim und höhnisch als „Kälber“. So kolportierte es jedenfalls einmal sein Sohn Philippe.

Der verwöhnte „Wahlmonarch“

Seit 1965 erhält der Staatspräsident sein Mandat und seine Legitimation durch eine direkte Volkswahl. Ziel der übermächtigen staatlichen Exekutive im von de Gaulle geschaffenen Präsidialsystem war, mit den Wirrnissen der parlamentarischen Demokratie, ihren häufigen Regierungskrisen und den endlosen Streitereien zwischen den Parteien aufzuräumen.

Als „permanenten Staatsstreich“ hat der damalige linke Oppositionspolitiker François Mitterrand jenen Systemwechsel zunächst bezeichnet. Denn mit der Verfassung der Fünften Republik wurden die Kompetenzen des Parlaments weitgehend beschnitten.

Derselbe Mitterrand fand sich nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten 1981 allerdings bestens zurecht in der von de Gaulle geschaffenen Rolle eines „Wahlmonarchen“. Und bis heute wollte keiner der Nachfolger, die es sich seither auf dem Thron im Élysée-Palast bequem gemacht haben, etwas Wesentliches an dieser Machtfülle ändern. Eben auch nicht: Emmanuel Macron.

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