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MyFest in Kreuzberg abgesagtDann lieber fliegende Steine

Lilly Schröder
Kommentar von Lilly Schröder

Auch in diesem Jahr hat der grün regierte Bezirk das MyFest abgesagt. Damit sorgt er dafür, dass der 1. Mai immer unpolitischer wird.

Politische Initiativen kritisieren schon lange die Entpolitisierung des 1. Mai durch das MyFest Foto: Monika Skolimowska/dpa

O hne fliegende Steine und Polizist*innen, die Linke durch reizgasdurchflutete Straßen jagten, war der 1. Mai in Kreuzberg früher kein 1. Mai. Dank des MyFests ist er seit Anfang der 2000er vielmehr dann kein 1. Mai mehr, wenn die Lastenrad fahrenden Yuppies fehlen, die Aperol Spritz trinken und Seifenblasen in die Luft pusten.

Ist das schlecht? Obwohl eigentlich alles daran nach „Ja!“ schreit, ist es das nicht. Das MyFest hat mit Anwohner*innenständen, Konzerten und Bühnen dafür gesorgt, dass der Feiertag in Kreuzberg weniger gewalttätig ablief. Zugleich wurde die politische Dimension durch die Einbindung lokaler Gruppen aufrechterhalten.

Obwohl linke Initiativen das MyFest seit Jahren wegen vermeintlicher Entpolitisierung kritisieren, ist anzuerkennen, dass durch das Stadtteilfest eine konstruktivere politische Atmosphäre geschaffen wurde, in der Gespräche statt Gewalt im Vordergrund standen.

Diejenigen, die den 1. Mai politischer begehen wollten, hatten außerdem weiterhin die Möglichkeit dazu. Dafür sorgte dann die jährliche Revolutionäre 1. Mai-Demonstration.

MyFest ist auch für 2024 abgesagt

Problematisch ist also weniger, dass es das MyFest gab. Problematisch ist vielmehr, dass es es nicht mehr gibt. Denn nachdem das Straßenfest seit 2020 drei Jahre lang coronabedingt ausfiel, wird es auch in diesem Jahr erneut nicht stattfinden. Warum? Das weiß keiner so genau. Der Grünen-geführte Bezirk und der Veranstalter haben sich nicht einigen können. Dieser wirft dem Bezirk vor „kein Interesse“ am MyFest zu haben. Das Thema in der Bezirksverordnetenversammlung zu diskutieren, hält das Bezirksamt anscheinend nicht für nötig.

Ohne handfeste Argumente hat der Bezirk, vorneweg Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann (Grüne), das von An­woh­ne­r*in­nen selbst organisierte Fest abmoderiert. Bürokratische Vorwände werden vorgeschoben und den Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen vorgeworfen, Anträge und ein Sicherheitskonzept nicht rechtzeitig eingereicht zu haben (obwohl bis einschließlich 2020 immer alle Genehmigungen erteilt worden waren). Zudem sei es zu voll, zu eng, zu laut, so Herrmann. Die Kreuzberger*in­nen wünschten sich ein „kleineres und politischeres Format“.

Um die Anwohner*in­nen­be­dürf­nis­se scheint es jedoch beim besten Willen nicht zu gehen. Denn anstatt alternative Formate voranzutreiben, verbringt der Bezirk lieber seine Zeit damit, Menschen, die sich für ein etabliertes Format engagieren, Hürden in den Weg zu legen und damit für ein Ende des beliebten MyFests zu sorgen.

Mit der Beerdigung des Fests sorgt der Bezirk dafür, dass der 1. Mai immer weniger mit dem zu tun hat, wofür er ursprünglich stand. Es wird politische Teilhabe minimiert und durch ein bloßes Saufgelage ersetzt. Denn die Massen strömen wie im vergangenen Jahr auch ohne organisiertes MyFest nach Kreuzberg, um sich wegzulöten.

Und auch für dieses Jahr steht fest: Ob MyFest oder nicht, die Ber­li­ne­r*in­nen werden sich ihre Caipis oder Sternis oder auch Aperol Spritz' am 1. Mai nicht nehmen lassen. In diesem Sinne wären die Grünen gut beraten, die Feiernden in ihrem Rausch wenigstens von politischen Reden begleiten zu lassen.

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Lilly Schröder
Redakteurin für Feminismus & Gesellschaft im Berlin-Ressort Schreibt über intersektionalen Feminismus, Popkultur und gesellschaftliche Themen in Berlin. Studium der Soziologie und Politik.
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4 Kommentare

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  • "Zudem sei es zu voll, zu eng, zu laut, so Herrmann. Die Kreuzberger*in­nen wünschten sich ein „kleineres und politischeres Format“."



    So wie damals 1987? ;-)

  • Für mich war der erste Mai immer nur einfach ein freier Tag. In manchen Pfarreien wurde eine Heilige Messe mit Josef der Arbeiter oder Maria als Patrona Bavariae angeboten.

    • @Christoph Strebel:

      Nun, das war aber eher nicht in Berlin, richtig? ;-)

  • Irgendwie interessant, scheinbar gibt es in Berlin einen Anspruch auf Bespaßung und Krawall.



    So aus der Provinz gesehen ist das irgendwie unverständlich. Ich kenne das von früher als Tag der Arbeit, wo alle die nicht bei einem Tanz in den Mai versumpft sind und sich irgendwie mit Arbeiterschaft und Gewerkschaft identifizieren einen Umzug mit anschliessender Kundgebung veranstaltet haben.



    Heute eher verkürzt mit anschliessendem Maifest, organisiert vom DGB-Kreisverband.



    Ohne Krawall, ehrlich, das ging soweit ich mich erinnere die letzten 50 Jahre so.