Mutmaßlicher Antiziganismus bei Polizei: Elfjähriger in Handschellen
In Singen haben Polizisten einen jungen Sinto festgenommen. Sie sollen das Kind mit Härte behandelt und rassistisch beleidigt haben.
Laut dem Landesverband der Sinti und Roma Baden-Württemberg soll das Kind am Samstag anlasslos durchsucht worden sein, als es gerade mit anderen Kindern vor dem Wohnhaus der Großmutter spielte. Nachdem die Polizist*innen ein kleines Taschenmesser bei dem jungen Sinto gefunden hatten, seien ihm Handschellen hinter dem Rücken angelegt worden. Ein Beamter hätte den Jungen auf gebrochenem Romanes sinngemäß mit Worten wie „Einer von den Z**, die kennen wir ja“ und „Der Tod kommt dich holen“ bedroht.
Die Mutter anzurufen, die sich unweit des Geschehens befand, sei dem Kind verwehrt worden. Obwohl der Junge darauf aufmerksam machte, dass er drei angebrochene Rippen habe und unter Asthma leide, sei er unter Anwendung körperlicher Gewalt auf den Rücksitz des Polizeiautos bugsiert worden. Auf der Wache sei das Kind eine halbe Stunde lang in einem Verhörraum festgehalten worden, bevor es vollkommen verängstigt allein nach Hause gelaufen sei.
Nach deutschem Recht sind Kinder unter 14 Jahren nicht schuldfähig. Werden sie dennoch zu polizeilichen Vernehmungen geladen, gelten besondere Schutzmaßnahmen, wie etwa ein Anwesenheits- und Mitwirkungsrecht der Erziehungsberechtigten.
Es ist nicht der erste Übergriff
„Ein Kind festzunehmen und dann auch noch den Kontakt zu den Eltern zu verwehren, ist ganz klar rechtswidrig“, erklärte Chana Dischereit vom Landesverband der Sinti und Roma gegenüber der taz. Und es sei nicht der erste Fall von antiziganistischer Polizeigewalt, mahnt sie. Der Fall füge sich ein in eine Reihe von Vorfällen von Polizeigewalt gegen Sinti und Roma in Baden-Württemberg, wie zum Beispiel 2016 in Heidelberg und 2020 in Freiburg und Singen.
„Den Eltern wurde bis heute nicht offiziell mitgeteilt, warum das Kind auf die Wache gebracht wurde“, berichtet Anwalt Mehmet Daimagüler, der am Dienstagabend im Auftrag der Familie „wegen aller in Betracht kommenden Straftatbestände“ Anzeige erstattete, darunter Freiheitsberaubung und Körperverletzung. Er hoffe auf unvoreingenommene und gründliche Ermittlungen, schrieb der Anwalt, der auch schon Familien von NSU-Opfern vertreten hatte, am Mittwoch auf Facebook.
Der Landesverband der Sinti und Roma fordert nun eine vollständige Aufklärung des Übergriffs. „Wir wenden uns darum an Herrn Innenminister Thomas Strobl im Vertrauen darauf, dass die Rechtstaatlichkeit wiederhergestellt wird“, erklärt dessen Vorstandsvorsitzender Daniel Strauß.
Aus dem baden-württembergischen Innenministerium heißt es auf taz-Anfrage, der geschilderte Fall sei im Moment nicht nachvollziehbar, man nehme ihn aber sehr ernst und arbeite intensiv an der Aufklärung.
Forderung nach Rassismus-Studie
Das Polizeipräsidium Konstanz, in dessen Verantwortungsbereich die Singener Polizei liegt, erklärte gegenüber der taz, es sei mittlerweile zwar sicher, dass es am Samstag in Singen einen Vorfall mit einem Elfjährigen gegeben habe. Zu den Inhalten der Vorwürfe könne man sich aber noch nicht äußern, weil die Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft eingegangen sei und dem Polizeipräsidium noch nicht vorliege.
Mit der Bitte um Unterstützung bei der Aufklärung wandte sich der Landesverband auch an die Grünen-Politikerin und Staatsministerin Theresa Schopper, die in der Landesregierung für Belange der Sinti und Roma zuständig ist.
Laut dem Grünen-Europaabgeordneten Romeo Franz bekräftigt der Vorfall einmal mehr die Notwendigkeit einer Studie zu Rassismus bei der Polizei. „Die Leipziger Autoritarismusstudie hat 2020 wiederholt aufgezeigt, dass immer noch mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung in diskriminierenden und rassistischen Stereotypen gegenüber Sinti und Roma verhaftet ist“, so Franz. „Genau deshalb benötigen wir eine bundesweite, unabhängige und umfassende Studie zum institutionalisierten Rassismus in der Polizei.
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