Musiktipps für Berlin: Jeder Tag ist wie Sonntag
Die Clubs und Konzertorte sind geschlossen. Dafür streamen Musiker*innen und DJs was das Zeug hält. Der taz plan gibt einen Überblick.
Dieser Tage schenkt man ja vor allem Ärzten Glauben. Kein Wunder, hat sich die gleichnamige Band aus Berlin zu Wort gemeldet, mit „Ein Lied für Jetzt“. Unter anderem, so lernen wir in dem Song, könnte der Einsatz von Virtual-Reality-Brille helfen, durch diese seltsamen Zeiten zu kommen.
Tatsächlich fällt es bisweilen schwer, sich vorstellen, wie so ein Clubabend in den eigenen vier Wänden ablaufen sollte, einer von der Art, wie er allabendlich auf unitedwestream.berlin geboten wird, der Streamingplattform der Berliner Clubs – auch wenn das Ganze selbstredend eine gute Idee ist, schließlich geht es dabei nicht zuletzt um Fundraising für existenzbedrohte Läden. Und man tut nicht nur der eigenen Bespaßungszukunft Gutes: Der „Stiftungsfond Zivile Seenotrettung“ bekommt acht Prozent der gespendeten Kohle.
Unter anderem gab es bei United We Stream Live-Sets aus dem Schwuz, dem Klunkerkranich oder Watergate, später lässt sich das Ganze noch bei arte concerts nachhören. Trotzdem, je nach Schauwert der jeweiligen Location, mutet es ungewohnt an, einer solchen Tanzveranstaltung von zuhause aus beizuwohnen. Guckt man von seinem leeren Sofa in einen leeren Club und wippt dazu mit dem Fuß? Oder setzt sich Funkkopfhörer auf und tanzt selbstvergessen?
Wie in der Silent Disco
Mit letzterem konnte man ja in den letzten 15 Jahre im Rahmen der so genannten Silent Discos Erfahrungen sammeln, Tanzveranstaltungen also, die in lärmfreien Räumen stattfanden und bei denen der Sound direkt auf den einzelnen Kopfhörer übertragen wird. Doch so richtig durchgesetzt hatte sich dieser Hype ja nie. Und in den eigenen Wänden wirkt das Ganze noch seltsamer: zur Musik den eigenen Topfpflanzen zunicken? Insofern wäre eine solche Virtual-Reality-Brille dem Fun-Faktor durchaus zuträglich, etwa durch eine Simulation echten Club-Lebens.
Online statt Print: Weil der taz plan in der gedruckten Ausgabe der taz wegen des Corona-Shutdowns bis auf Weiteres eingestellt wurde, erscheint hier nun jeden Donnnerstag ein Text vom „taz plan im exil“.
Abgesehen davon geben Die Ärzte mit diesem schrammligen Song aus ihrem Homeoffice – alle drei haben sich in ihr häusliche Arbeitszimmer zurückgezogen und sind über Handykamera zusammengeschaltet – noch ein paar tröstende Worte mit: „Das bisschen Quarantäne ist nicht die schlimmste Sache der Welt“. Naja, stimmt wohl: Schlimmer geht immer.
„Everyday is like Sunday“ sang einst Morrissey. Man wollte den rechtsradikalen Griesgram ja eigentlich nie wieder zitieren. Doch dieser Klassiker schleicht sich dieser Tage einfach immer wieder in die Echokoammer im Kopf. So entleert und sonntagmorgendlich hat man unsere Stadt schließlich nie gesehen.
Einen Sound, der besser als erwähnte Clubmucke zum Zustand dieser entschleunigten Introspektion passt, schenken uns Tobias Vethake alias Sicker Man & Kiki Bohemia mit ihren „Cleansing Drones for Locked Down Homes“. Seit dem Shutdown spielen die beiden jeden Abend um 21 Uhr live ein neues Stück zwischen Improvisation und Psychpop, verfolgen lässt sich über ihre Facebook-Seiten.
Meditation und Trost
Die beiden nennen das Ganze ein „experimentelles, musikalisches Ritual aus dem heimischen Studio. Meditation, Gebet, Selbstvergewisserung, Trost und Mittel der geistigen Hygiene in Zeiten des Ausnahmezustands“. Am jeweiligen nächsten Tag darf man die Stücke für Hausgebrauch herunterladen; bestens geeignet sind sie unter anderem für Spaziergänge durch die leere Stadt. Echte Kopfhörermusik eben.
Einen gebündelten Überblick darüber, was es sonst noch so gibt in der Stadt, zur Kinderbespaßung, auf Konzertbühnen oder an Comedy-Orten, bietet das Portal www.berlinalive.de. Da findet sich etwa ein Hinweis auf The Razzzones, für alle jene, die in der häuslichen Isolation den Klang fremder Stimmen vermissen. Die vier Beatboxer holen faszinierende Sounds aus ihren Mündern, live zu erleben ist das am Freitag aus dem Varieté Salon der ufaFabrik, um 20.30 Uhr.
Früh am gleichen Tag darf man zwischen 17 und 19 Uhr auf Instagram dem Minifestival #indieselbstisolation beiwohnen, veranstaltet vom Label unserallereins. Es gibt knackige 20-Minuten-Slots aus diversen Wohnzimmern, unter anderem mit den Indiepoppern Sebastian Block oder Sinu.
Und wer es im echten Leben noch nie in die Berliner Philharmonie geschafft hat, dem machen die Berliner Philharmoniker mit ihrer Digital Concert Hall aktuell ein besonders niedrigschwelliges Angebot. Für einen Monat darf man kostenfrei auf das gesamte Angebot des Portals zugreifen.
Unter anderem lässt sich da das letzte Konzert nachhören, das am 12. März in der Philharmonie stattfand, mit Sir Simon Rattle als Chefdirigent – schon ohne Saalpublikum, aber immerhin mit Orchester und acht eindrucksvollen Sänger*innen von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart, die ein großes Stück Neuer Musik vortragen: Luciano Berios „Sinfonia“. Langweilig dürfte einem in der Digital Concert Hall nicht werden, über 600 Orchesterkonzerte der letzten zehn Jahr sind dort archiviert.
Ein Herz für Abseitiges
Und auch wenn man sich gerade sehr aus der Zeit gefallen fühlt: Irgendwann wird es auch wieder anders, irgendwann wird man wieder mit fremden Menschen dicht an dich in einem muckeligen Club stehen. Und damit dann noch Gutes stattfinden kann, darf man auch schon mal Vorschuss gewähren:
Einer der tollsten Konzertveranstalter Berlins, der umtriebige Ran Huber, der mit seine One-Man-Agentur amSTARt seit über 20 Jahren mit großen Herz alles Entzückende und Abseitige fördert, hat eine Crowdfundingkampagne ins Leben gerufen. Unter www.startnext.com/amstart-berlin kann man spenden. Die eine Hälfte geht an Künstler, deren gebuchte Gigs aktuell nicht stattfinden können, die andere soll das Überleben der Agentur sichern.
Und auch wenn die „Sound der Stadt“-Kolumne im gedruckten taz plan gerade pausiert: natürlich hat die Stadt im Moment einen eigenen Sound, einen ziemlich eigenen sogar, den man genießen sollte. Wenig Verkehrslärm, aber viel Vogelgezwitscher. Und ab und zu ein*e Straßenmusiker*in, der/die scheinbar nur für sich selbst spielt: etwa die tolle Dudelsackspielerin letztes Wochende im Tiergarten. Mit drei Zuschauern, die einen Mindestabstand von 30 Metern befolgten. Aber große Freude daran hatten.
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