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Musik über sexuellen MissbrauchHungrig einschlafen

Sexueller Missbrauch bei einem Majorlabel: Die britische Sängerin Raye thematisiert Gewalt auf ihrem verstörendem Album „21st Century Blues“.

Mutig und selbstbewusst: Raye Foto: Callum Walker Hutchinson

Raye ist quicklebendig. Die 25-jährige britische R&B- und Pop-Sängerin, bürgerlich Rachel Agatha Keen, war 2017 mit Powerplay im Radio, dank ihres leicht bekömmlichen Hits „You don't know me“. Dann wurde es still – bis jetzt. „My 21st Century Blues“ heißt ihr kürzlich erschienenes Debütalbum und ist weder leicht noch bekömmlich, sondern verstörend. Musik und Texte zeigen Raye als talentierte Künstlerin.

Die in Deutschland bekannteste Singleauskoppelung des Albums, „Escapism“, klingt nach Feiern und viel Selbstbewusstsein. Der Eindruck täuscht: Leitmotiv der Musik ist keine durchtanzte Nacht, sondern die Misshandlung einer Frau. Rayes Sound ist lupenreiner Pop mit Rap-Elementen, immer mit überraschendem Twist und minimalistischer Instrumentierung. Ein starker Beat trägt ihre Stimme, trotz aller Melancholie.

Wenn die Sängerin in „Black Mascara“ erzählt, wie ihre Mutter Rayes kajalverschmierte Tränen wegwischt, nachdem sie von einem Mann unter Drogen gesetzt und vergewaltigt wurde, klingt das hypnotisierend. In hellem Sopran beginnt sie, dann wird der Beat schneller und der Sound breitet sich mit pulsierender Unruhe aus, Bis nur noch Bass zu hören ist, der ihre Worte verschluckt und als Aufforderung zum Tanz wieder ausspuckt. Ihre Stimme wird fordernder, aus Trauer wird Wut, aus Wut schließlich Tanz.

Tieftraurige Melodie

In „Ice Cream Man“ singt sie in tieftrauriger Melodie von einem Mann, einem Produzenten, dem sie sexuellen Missbrauch vorwirft. „Ich war sieben, ich war 21, ich war 17, ich war elf und ich brauchte lange, um zu verstehen, was mein Konsens bedeutet“, singt sie, doch sie bleibt nicht dabei: „Niemals werde ich einen Mann ruinieren lassen, wie ich gehe und spreche.“

Raye- das Album

Raye: „21st Century Blues“ (Human Re-Sources/Membran)

Vielfach hat Raye betont, dieses Album erzähle ihre Geschichte, es sei keine ausgedachte Lyrik, sondern die Skizze ihres eigenen Leidens- und Heilungsprozesses. Dem britischen Sender BBC erklärte sie, das Wiederaufreißen ihrer Wunden könne sie durch das Spielen der Songs manchmal kaum ertragen. Rolling Stone berichtete sie in einem anderen Interview, keine juristische Schritte gegen die Täter eingeschlagen zu haben und ihre Heilung, ihre Rückeroberung von Macht allein über ihre Musik gefunden zu haben. Warum sie nie gegen den Täter vorgegangen ist, auch, um Kolleginnen beispielsweise vor demselben Produzenten zu schützen, darüber spricht sie leider kaum.

Natürlich muss Rayes Haltung kontrovers diskutiert werden, bei aller Bewunderung für dieses Album. Raye hat viele Fans, darunter auch viele junge Frauen, unter ihnen auch Opfer sexueller Gewalt, die zu ihr aufblicken. Auf der anderen Seite erzählt Raye ihre Geschichte aus ihrer eigenen Perspektive. Sie nennt ihre Wahrheit als Opfer – und das tut sie künstlerisch hervorragend.

Schmerz und Schuldgefühle

Das ist eigentlich am erstaunlichsten an diesem Werk: Raye singt über sexuellen Missbrauch, den Schmerz, die Schuldgefühle und die Nächte, die sie hungrig schlief, weil sie sich zu sehr hasste, um essen zu können. Aber sie singt genauso über Selbstermächtigung und über Männer, die sie selbst verführt, weil sie es will. Sie bezeichnet die Produktion des Albums selbst als heilsam.

Was wir hören, ist nicht das austherapierte Endprodukt einer emanzipierten Frau, sondern alle Therapiesitzungen dazwischen: Von dem ersten Suchen nach Worten für den geschehenen Missbrauch über Selbsthass und Fassungslosigkeit hin zu Wut, um schließlich, vorsichtig und mit weicherer Stimme, von der Hoffnung auf neue Liebe zu erzählen.

Dass all diese biografischen Facetten in einem einzigen Album kulminieren, unterstreicht die Ambivalenz von Heilung und Trauma, die „My 21st Century Blues“ thematisiert: Nichts ist vergessen und narbenlos verschwunden, gleichzeitig strotzt diese Musik vor Überlebenswillen und Hoffnung. Schon die Genese des Albums, um dessen Veröffentlichung die Sängerin lange kämpfen musste, spiegelt das wider: Das Majorlabel Polydor wollte sie, so Raye, als „Mädchen, das tanzbare Songs“ produziert und nicht als Frau, die ein Album mit Songs über sexuellen Missbrauch bei einem Majorlabel veröffentlicht. Zu Vergewaltigungsvorwürfen tanzt es sich schlechter.

Die Coverillustration, ihre kleine Schwester als junge Raye in zu großen Schuhen auf einem Berg aus Instrumenten stehend und Männerhänden ausweichend, erzählt die Geschichte zu Ende: Raye ist nicht mehr dieses Mädchen. Aber sie trägt es noch in sich.

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