Museum für russlanddeutsche Geschichte: Jede Menge Schicksal
Das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold ist einzig in Deutschland. Der rote Faden ist Migration – mal freiwillig, mal unter Zwang.
Viele andere Ausstellungsstücke haben nur den Weg aus der Sowjetunion nach Deutschland zurückgelegt. Ein in der Sowjetunion gefertigter Falzhobel beispielsweise, mit der ein Aussiedler, ein gelernter Tischler, auch in Deutschland seine Brötchen verdienen wollte. „Alle Ausstellungsstücke haben uns Spätaussiedler geschenkt“, sagt Warkentin.
Das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte ist einzigartig in Deutschland. Die Gründung 1997 geht auf eine zivilgesellschaftliche Initiative von Russlanddeutschen in Detmold zurück. 2011 konnte es den Seitenflügel einer Gesamtschule beziehen. Seit 2016 wird es vom Bund gefördert. „Uns besuchen 12.000 Gäste pro Jahr“, sagt Direktor Kornelius Ens. Und noch viel mehr Menschen, mehr als 100.000 weltweit, haben den Podcast „Steppenkinder“ des Museums mit insgesamt 44 Folgen geklickt.
Der Podcast unterscheidet sich angenehm von sonst auch sehr deutschtümelnden Äußerungen aus der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. Warkentin und die Journalistin Ira Peter, die ihn gemeinsam gestalten, sind als Kinder von Kasachstan nach Deutschland gekommen. Russlanddeutsche sehen sie nicht als die Deutschesten der Deutschen, sondern als Teil der Migrationsgesellschaft. Sie erzählen von ihrem schwierigen Ankommen in Deutschland, von ihrem ersten Döner, dem Einleben in das deutsche Schulsystem.
Leidensgeschichten in der Stalin-Ära
Die Leidensgeschichte der Deutschen in der Sowjetunion der Stalin-Ära sehen sie nicht losgelöst von anderen Volksgruppen, sondern sie erzählen, dass ihre Vorfahren gemeinsam mit Tschetschenen, Balten, Finnen, Ukrainern und anderen in Gulags leiden mussten, allein ihrer Volkszugehörigkeit wegen. Und sie haben Geschichten aus Archiven ausgebuddelt, die man schlicht kaum glauben kann. Beispielsweise, dass 1930 ein gesamtes russlanddeutsches Dorf mit mehr als 200 Bewohnern aus dem Fernen Osten der Sowjetunion mit Pferdeschlitten mitten im Winter über den zugefrorenen Amur nach China flüchtete und von dort weiter nach Lateinamerika. Oder dass 1982 zwei russlanddeutsche Brüder ein Flugzeug in die Türkei entführten, um nach Deutschland zu gelangen, wo sie nach einer mehrjährigen türkischen Haftstrafe auch landeten.
Mit den Beispielen wollen die Podcaster den enorm großen Wunsch vieler Russlanddeutscher, die Sowjetunion zu verlassen, zeigen. Der war aber von wenigen Ausnahmen abgesehen erst nach 1987, als die Sowjetunion ihre Ausreisebestimmungen lockerte, und dann nach ihrem Zerfall möglich.
Eine der Ausnahmen ist Museumsdirektor Kornelius Ens. Der Theologe wurde 1981 in Deutschland geboren, nachdem es seinen Eltern gelungen war, aus der kirgisischen Sowjetrepublik legal auszureisen. Genau wie Ira Peter und Edwin Warkentin, die in der kasachischen Sowjetrepublik geboren wurden, kommt Ens Familie also gar nicht aus Russland. Warum heißen die drei dann Russlanddeutsche?
„Der Name ist historisch gewachsen. Er bezieht sich nicht auf die heutige Russische Föderation, sondern auf das Russische Reich“, erläutert Warkentin. Dorthin seien ihre Vorfahren ja einst ausgewandert, dem Ruf der Zarin Katharina der Großen folgend. Das Wort „Russlanddeutsche“ entstand nach dem Ersten Weltkrieg, als die ersten Deutschen die Sowjetunion verlassen hatten. Da sie die Sowjetunion politisch ablehnten, nannten sie sich aber nicht Sowjetdeutsche, sondern Russlanddeutsche.
Der Kollaboration verdächtigt
Die Hälfte der Russlanddeutschen, die nach Deutschland kamen, reiste aber aus Kasachstan ein, gut ein Drittel kam aus Russland. Nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion 1941 wurden Russlanddeutsche kollektiv der Kollaboration mit Nazideutschland verdächtigt und in entlegene Gebiete in Sibirien und Zentralasien verbannt, die meisten kamen in Sondersiedlungen und Gulags. 220.000 von ihnen kamen dort oder bereits auf dem Weg dorthin um. Die deutsche Sprache zu sprechen war dort nicht möglich und sie wurde an die nächste Generation nicht weitergegeben. In der Sowjetunion waren sie dennoch aufgrund ihrer Namen als Deutsche erkennbar, wurden bereits als Kinder als „Nazis“ diskriminiert.
Nach Stalins Tod wurden zwar viele Restriktionen gelockert, trotzdem durften Russlanddeutsche aber auch dann noch lange nur in entlegenen Gebieten in Kasachstan oder Sibirien leben.
Insbesondere seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine kommt der Begriff „Russlanddeutsche“ in Verruf, weil er eine Verbindung zur Russischen Föderation assoziiert. Die Sympathie für Putin teilt nur ein Teil der Russlanddeutschen. Andere leisten viel bei der Unterstützung von Ukraine-Flüchtlingen. „Das ist gerade in unserer Region Ostwestfalen-Lippe so“, sagt Warkentin. Freikirchen mit vielen Russlanddeutschen hätten viele Ukrainer aufgenommen, sagt er.
Dass das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Ostwestfalen-Lippe beheimatet ist, ist ein Stück weit Zufall, ein Stück weit aber auch nicht. „Wir sind die Region mit dem höchsten Spätaussiedleranteil bundesweit“, sagt Warkentin. Die benachbarte Großstadt Paderborn weist mit 10 Prozent die meisten Spätaussiedler unter allen Großstädten auf. Und auch in Detmold sind Zuwanderer zum größten Teil Russlanddeutsche.
Die Frage nach der AfD
Und wie ist das mit der AfD-Präferenz der Russlanddeutschen? Ens und Warkentin halten es für eine Medienkonstruktion, dass fast alle Russlanddeutschen AfD wählen würden. Eine einzige sozialwissenschaftliche Untersuchung zum Wahlverhalten der Gruppe stammt aus dem Jahr 2017. Dort hatten bei einer insgesamt geringen Wahlbeteiligung 15 Prozent der Russlanddeutschen erklärt, bei der Bundestagswahl die AfD gewählt zu haben. Unter der Gesamtbevölkerung waren es 13 Prozent. Bei den Russlanddeutschen nahm die AfD damit Platz 3 ein, nach CDU/CSU und Linken. Warkentin hat eine Erklärung für die Medienkonstruktion: „Die Medien schauen in die sozialen Hotspots, dorthin, wo besonders viele Russlanddeutsche in prekären Verhältnissen leben.“ Dort werde in der Tat viel AfD gewählt. „In meinem Bekanntenkreis kenne ich fast niemanden, der bei der AfD das Kreuz macht“, sagt er. Eine neue Tendenz wäre allerdings eine ihm zahlenmäßig nicht bekannte Affinität zur Wagenknecht-Partei. „Mit ihrem Antiamerikanismus und ihrer Putinnähe kommt sie bei einigen Russlanddeutschen an.“
Das Museum zeigt im Erdgeschoss das goldene 18. und 19. Jahrhundert der Russlanddeutschen: Da folgten 200.000 Menschen ab 1763 dem Ruf Katharina der Großen und siedelten in Steppengebieten des Russischen Reiches, vor allem an der Wolga, im Schwarzmeerraum und der Westukraine. Die Zarin garantierte den Deutschen Religionsfreiheit, Wehrdienstfreiheit und Steuerprivilegien. Menschen, die aus religiösen Gründen keinen Wehrdienst leisten wollten, und Bauernsöhne, die kein Land geerbt hatten, folgten dem Ruf Katharinas. Als Gegenleistung mussten sie Steppenregionen urban machen, in denen bis dahin nur Nomaden unterwegs gewesen waren. Sie mussten in geschlossenen deutschen Kolonien leben, den Schulunterricht für ihre Kinder selbst organisieren und sollten sich nicht kulturell und sprachlich integrieren.
Bereits in den letzten Jahren des Zarismus, stärker aber noch während der Sowjetunion, gingen die Privilegien verloren. Das zeigt das düstere Kellergeschoss des Museums, das für das 20. Jahrhundert steht. Ab 1874 mussten Russlanddeutsche Wehrdienst leisten. In den 1920er und 1930er Jahren wurden die deutsche Hochschule an der Wolga und viele deutsche Schulen im ganzen Land geschlossen. Lehrer, Pfarrer und andere deutsche Intellektuelle, Ens nennt sie die „Erzähler der Minderheit“, wurden erschossen oder in Lager verbannt, die Community damit ihrer Kultur beraubt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Etwas, was bis heute durchschlägt, sagt Ens. Denn viele Russlanddeutsche, die heute in Deutschland lebten, würden die Geschichte ihrer Community nicht kennen, sie kämen mit vielen Fragen ins Museum. „Wenn wir homogen russlanddeutsche Besuchergruppen haben, dann wird hier viel geweint.“
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