Münkler über Schland-WM-Kultur: „Früher haben sie Kaugummi gekaut“

Die Debatte über die Nationalelf zeigt, wie sich das deutsche Selbstverständnis wandelt. Der Politologe Münkler über Symbolik und Spieler, die nicht singen.

Jemand schwenkt die deutsche Fahne über einem Transparent: "Jerome sei unser Nachbar"

Das waren noch Zeiten: Testspiel Deutschland – Slowakei im Jahr 2016 Foto: Imago / Michael Weber

taz am wochenende: Herr Münkler, wenn wir die Übertragungen aus Russland anschauen: Was sehen wir da? Geht es bei dem WM-Turnier wirklich nur um Sport?

Herfried Münkler: Nein, das ist eine der gern verbreiteten Behauptungen von Sportfunktionären, die je nach Bedarf erzählen, Sport sei grundsätzlich unpolitisch. Aber nur, wenn ihnen das in den Kram passt. Wenn es ihnen umgekehrt in den Kram passt, dass Sport ein Brückenbauer und Überwinder politischer Gegensätze sei, dann erzählen sie eben das. Tatsächlich sind Nationalmannschaften Projektionsflächen für kollektiven Stolz, kollektive Ressentiments, Ängste und derlei mehr.

Was sind dann Länderspiele – Ersatzkriege?

„Ersatzkrieg“ ist ein Wort, das in den Erzählungen der fünfziger und sechziger Jahre eine Rolle gespielt hat: dass also das kompetitive Verhältnis der Nationen untereinander pazifiziert worden sei.

Der Zweite Weltkrieg war damals ja noch sehr präsent.

Ja, Fußballländerspiele waren eine nichttödliche Form, kollektive Narzissmen symbolisch auszutragen. Das Politische spielte heftig in diese Erzählungen mit hinein. Deshalb erinnern wir frühere Länderspiele als „Schlachten“.

Herfried Münkler, 66, lehrt Politische Theorie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von ihm erschien u. a. „Die Deutschen und ihre Mythen“.

Und wofür stand das „Wunder von Bern“, der deutsche WM-Titel im Jahre 1954?

Es war die große Wende – mit einer Mannschaft, in der relativ viele ehemalige Wehrmachtssoldaten dabei waren. Die haben, wenn ich das mal so flapsig sagen darf, im Wankdorfstadion von Bern gezeigt, dass die Deutschen doch noch gewinnen können.

Weshalb fällt es vielen heute schwer, Fußballer in der Nationalmannschaft zu akzeptieren, die nicht so aussehen wie die Spieler der Weltmeistermannschaft von 1954? Schon das Römische Reich hat doch Soldaten beschäftigt, die nicht aus dem Kernland des Imperiums kamen.

Selbst der Nationalsozialismus hat in den in Europa aufgestellten SS-Divisionen andere für sich kämpfen lassen. Die härtesten Verteidiger waren im ­April 1945 dann genau diese, denn sie wussten, dass es für sie keine Rückkehr mehr gab; für sie gab es eigentlich nur den Tod. Wenn man in die Geschichte des Fußballs schaut, kann man sagen: Nach 1998 gab es in Deutschland einen Stimmungswandel im Hinblick auf jene, deren Eltern erst in unser Land eingewandert waren.

Lag das auch an der ersten rot-grünen Regierung?

Nein, das Ereignis, auf das ich hinweisen möchte, fand einige Monate vorher statt. Die Fußball-WM fand damals in Frankreich statt – und der Gastgeber gewann mit seiner Équipe. Deutschland stellte dann mit einem gewissen Neid fest, dass die französische Nationalmannschaft, die ja gewissermaßen das alte französische Kolonialreich abbildete, sehr erfolgreich war, während die biodeutsche Fußballmannschaft sich eher peinlich geschlagen hatte.

Der DFB änderte aus purer Not und Erfolglosigkeit seine Wahrnehmung?

In der Tat. 2006, 2010 und 2014 machten dann sehr viel mehr her. Diese Mannschaften waren gewissermaßen eine Neuerfindung des deutschen Fußballs. Sie waren eine Widerspiegelung der Vorstellung von gelingender Integration. Und die Fußballmannschaft brachte das symbolisch zum Ausdruck.

Und der Erfolg kam zurück.

Ja, die Deutschen wurden schließlich 2014 Weltmeister. Nun gibt es aber seit 2016 fußballerisch Probleme. Und Alexander Gauland hat dann Jérôme Boateng als guten Fußballspieler charakterisiert, den man aber nicht als Nachbarn haben wolle. Eine Äußerung, wie sie sonst antisemitischer Art sind. Und eine Äußerung, die die große Idee von AfD, Pegida und klassischen Rechtsradikalen kenntlich macht: ein Projekt der Remigration einzuleiten, anstatt die Ankömmlinge, und mögen sie die Kinder oder Enkel von Migranten sein, möglichst gut zu integrieren.

Warum fällt es sogenannten Biodeutschen schwer, zu akzeptieren, dass nun Mesut, Ilkay oder Jérôme auch deutsche Vornamen geworden sind?

Hinter diesen Schwierigkeiten steckt das Projekt, unsere Einwanderungsgeschichte zu leugnen. Die Geschichte der alten Bundesrepublik zu verstehen heißt, sie als Einwanderungsland zu begreifen. Nicht mit neuen Bürgern aus dem Osten Europas – das war Deutschland seit dem Beginn der Industrialisierung, sondern nun mit neuen Bürgern aus dem Süden, erst aus Italien, dann aus Spanien, Jugoslawien und der Türkei. Eine Nationalmannschaft, die auf diese Ressourcen baut, ist, wenn sie Erfolg hat, eine Werbung für eine postmigrantische Gesellschaft.

Die die AfD kategorisch ablehnt …

Deshalb agieren sie auf der symbolischen Ebene gegen Spieler mit Vornamen wie Jérôme oder Ilkay oder Mesut. Wenn diese dann fußballerisch keinen guten Tag haben, wird das ausgenutzt – und sie werden zu Sündenböcken.

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Aber es gab doch in den vergangenen Jahren schon Debatten über diese Spieler, weil manche von ihnen bei der Nationalhymne nicht mitsangen. 1974 spielte das Mitsingen noch gar keine Rolle.

Mit dem Ende der Teilung Deutschlands 1990 hat sich etwas geändert, auch durch das Anschauen anderer Nationen, bei denen man gesehen hat: Die singen die Hymne mit, die legen die Hand aufs Herz oder machen andere Gesten. Das war der zunehmende Bedeutungsgewinn von Symbolik nach dem Iconic Turn, also der Abwendung von der wesentlich über Texte vermittelten Struktur unserer Wahrnehmung durch ein sehr viel stärker bildhaftes Erfahren.

Wie wirkte sich das aus?

Im Zuge dessen ist es üblich geworden, dass die Kameras ganz nah an die Spieler während der Nationalhymnen herangehen und die Leute einzeln abschreiten. So wird genau sichtbar, was die da machen. Früher haben sie halt Kaugummi gekaut und auf diese Weise versucht, ihre Nerven unter Kon­trolle zu bekommen. Jetzt sieht man, dass manche religiöse Zeichen machen. Bei Lateinamerikanern und Afrikanern sieht man ja häufig, dass sie das Kreuz schlagen, gelegentlich sieht man auch muslimische Zeichen, aber sehr viel seltener.

Regt Sie das nicht auf, diese Aufladung des Auftakts mit den Hymnen und der Kon­trolle, ob Spieler mitsingen?

Nein, das regt mich nicht auf. Ich würde ja sagen, die Zurschaustellung von religiösen Zeichen ist Blasphemie auf dem Fußballplatz. Aber wenn einer ein Tor schießt und sich danach bekreuzigt – was man häufig sieht –, dann würde ich sagen: Das gehört halt auch irgendwie zu pluralistischen Gesellschaften mit einer starken Veralltäglichung von allen möglichen eigentlich sakralen Gesten dazu. Möglicherweise kommen wir auf den Gedanken, so etwas möchten wir auch sehen. Ich weiß ja nicht, ob Markus Söder demnächst bei Bayern München auf die Idee kommt, dass die Spieler, wenn sie ein Tor schießen, sich hinterher bekreuzigen sollen.

Warum hadern viele mit der deutschen Hymne? In den USA, wo Linke selbstredend Patrioten sind, ist es gerade das Ziel von Migrant*innen, einmal in einem US-Team die Nationalhymne zu intonieren.

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Die harmlose These würde sagen: Das Mitsingen ist der Wunsch nach dem Gleichsein unter anderen, nichts Besonderes sein zu wollen. Wenn man den Deutschen lange vorgeworfen hat, sie wollten was Besonderes sein, dann ist das Mitsingen der eigenen Hymne ein Zeichen von „Wir wollen ein Volk sein wie jedes andere auch“. Das wäre unproblematisch. Ich möchte der Frage der Nationalhymne aber auch nicht dieses Gewicht beilegen, zumal wenn man sich da noch mal die Hymnentexte anschaut. Es gibt ja teilweise sehr blutrünstige und bellizistische Hymnen – die französische etwa. Verglichen mit dieser haben die Deutschen eine sehr melodische und friedliche. Der Text, jedenfalls die dritte Strophe, ist gar nicht aggressiv. In relativ vielen Liedern wird das Blut und was auch immer man für das Vaterland geben will, besungen. Das findet sich in der deutschen Hymne nicht, und deswegen finde ich das eine durchaus mitsingenswerte Hymne.

Bei Spielern mit migrantischem Hintergrund …

… wäre das jetzt, wenn sie selbst nicht singen wollen, eine erzwungene Symbolik, gegen die sie doch gern ihre eigene Anständigkeit bewahren möchten. Sie werden durch das Kollektiv, für das sie Fußball spielen, in eine Rolle hineingedrängt, zu einem Zwangsbekenntnis getrieben. Ich kann verstehen, dass sie da eher wenig Lust haben, auf Befehl mitzusingen.

Wem drücken Sie eigentlich die Daumen? Hatten Sie in der Vorrunde wie ein Patriot selbstverständlich der deutschen Mannschaft die Daumen gedrückt?

Wenn die jetzt richtig schlecht sind, dann bin ich nicht unbedingt einer, der mit ihnen fiebert, aber normalerweise ist das schon so. In die Zeit meines Lebens fallen insgesamt vier Gewinne der Fußballweltmeisterschaft, ich hätte nichts dagegen gehabt, wäre ihnen das zum fünften Mal gelungen, weil sie dann mit den ultraeitlen Brasilianern gleichgezogen hätten.

Und nach dem deutschen Ausscheiden: Welchem Team gehören jetzt Ihre ­Sympathien?

Das entscheidet sich bei mir in den ersten 15 bis 20 Minuten, wenn ich dann sage: Die spielen aber wirklich gut. Dann gibt’s natürlich immer die Relationierung zwischen dem tatsächlichen Spielverlauf und dem, was man gerecht nennt – also wer spielt welche Chancen heraus? Und da bin ich ein Anhänger von Gerechtigkeit. Jedenfalls habe ich da eher Sympathien für die Mannschaft, die das schönere Spiel oder das weniger faule Spiel betreibt, die offensiver spielt und nicht grundsätzlich nur aus der Defensive agiert. Das sind eher ästhetische Präferenzen, die man da hat.

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