Müllsammler-Szene: Gefundenes Fressen
Aktivisten der "Containerszene" essen, was Supermärkte wegwerfen - aus Protest gegen Konsumkultur und Wegwerfwahn. Ein nächtlicher Streifzug mit zwei Müllschluckern.
Sein Essen besorgt sich Falk Beyer nachts. Wenn die Magdeburger vor ihren Fernsehern sitzen, packt er Handschuhe, Taschenlampe und Messer in die Einkaufstaschen. Dann zieht er los - zu den Mülltonnen. Als er das erste Mal in einem Berg verrotteter Paprika, vergorener Jogurts und schrumpeliger Äpfel gegraben hatte, fühlte er sich schlecht. Nicht, weil der Inhalt der Tonne so streng roch, sondern weil er so viele Lebensmittel in blauen Müllsäcken fand, die noch gut waren.
"Essen ist ein Grundbedürfnis, warum soll ich dafür bezahlen?", fragt Beyer ruhig. Er ist ein schlanker Typ, blass, dunkelblonde kurze Haare, unauffällige Brille, wie man sich einen 26-jährigen Informatikstudenten vorstellen mag. In der Stadt kennt man ihn als Umweltaktivist und Initiator der Initiative gegen Lebensmittelvernichtung.
Wenn er erklärt, was er macht, spricht er von Konsumwahn und Wegwerfgesellschaft. "Lebensmittel kaufen sie in Massen, um den Preis zu drücken, am Ende schmeißen sie die Hälfte weg, anstatt es zu verschenken." Seit die Marktleiterin von Netto die Mülltonnen hinter Gittern weggesperrt hatte, mobilisiert er gegen große Supermarktketten in Magdeburg. Regelmäßig trifft er die Containerszene im Internet. In allen großen deutschen Städten gibt es Aktivisten. Manche sammeln Müll aus Protest schon seit zehn, fünfzehn Jahren. Immer öfter berichten Anhänger von ihren Streifzügen in Bloggs. In Chatrooms oder Foren gibt es Ratschläge zur Ausstattung und Technik oder Hinweise auf die vollsten Container.
Auf Beyers Route liegen Norma oder Rewe, Netto oder Plus. Bis zu fünf Märkte, sechs Mülltonnen und zwei Zäune bezwingt er in den Nächten, in denen er auf Tour geht. In großen Rucksäcken schleppt er Obst, Gemüse, Dosen oder Gebäck nach Hause, so viel er tragen kann. Manchmal hat er einen Holzwagen dabei, den hängt er dann an sein rostiges Diamant-Rad.
Heute ist Mittwoch, eigentlich kein guter Tag, weil die Supermärkte ihre Produkte erst vor den Wochenenden aus den Regalen sortieren. Aber heute ist eine Bekannte aus der Szene gekommen. Ihren Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen, die scheue Pädagogikstudentin soll in dieser Geschichte Sarah heißen. Sie kauert auf der abgenutzten Couch des Umweltbüros, spielt mit ihren Dreadlocks. Sarah hat aus der Szene schon viel übers Containern gehört und will wissen, wie es ist, Essbares aus Mülltonnen zu fischen. Skeptisch mustert sie Beyers Reich. Das Inventar stammt aus Spenden oder vom Sperrmüll. Neben voll gestellten Bücherregalen liegt die aktuelle Ausgabe der Umweltzeitung Grünes Blatt, die Beyer herausgibt. Auf dem Cover ist ein zerstörtes Genmaisfeld abgebildet. "Wenn du magst, kannst du ins Internet", sagt er zu Sarah. Beyer hat alle wichtigen Informationen und Links zum Containern bei Anarchopedia zusammengetragen.
Er sitzt zwischen vier Rechnern, es gibt DSL. Beyer selbst klebt vorm Bildschirm, kann sich nicht losreißen. Neben Gesetzestexten stehen volle Aktenordner. Sie sind mit "Atomkraft" oder "Castor" beschriftet.
Beyer tippt die letzten Zeilen eines Fax. Das muss noch weg, nächste Woche ist wieder ein Prozess. Während des Sommer-Wendland-Camps hatte die Polizei ihn festgenommen. Jetzt verklagt er die Beamten. Er glaubt, dass sie gegen das Demonstrationsrecht verstoßen haben.
Furcht vor dem Gesetz hat er nicht. Wenn er sich strafbar macht, dann tut er das mit Absicht. Neuerdings trägt er Zettel mit seiner Anschrift und der Nummer seines Personalausweises bei sich. "Der Marktleiter kann mich anzeigen, dann habe ich die Möglichkeit, meinen Protest öffentlich zu machen." Wenn er Essen aus Containern nimmt, ist das Diebstahl. "Entweder gehört es demjenigen, der es weggeworfen hat, also den Discountern, oder der Abfallwirtschaft", referiert er. Zuletzt hatte die Marktleiterin von Netto versucht, die Containerszene mit allen Mitteln vom Müll fernzuhalten, hat die Polizei gerufen, aber wegen Müll-Diebstahl seien die nicht gekommen.
"Bist du bereit?" Beyer hat das Fax versandt und blickt zu Sarah. Ihre zierlichen Hände hat sie in den Ärmeln des schwarzen Kapuzenpullis vergraben. Unschlüssig steht sie im Raum, wartet darauf, dass es losgeht. "Viele Produkte sind luftdicht verpackt und mit den fauligen Sachen gar nicht in Berührung gekommen", sagt Beyer, schnürt die Wanderschuhe zu und streift ein Shirt über. Von seinem Rücken lacht jetzt die Anti-Atomkraft- Sonne, er lächelt. "Bei der letzten Tour mussten wir nach dem ersten Container umkehren, so voll waren die Tüten." Sarah nickt. Schweigend folgt sie Beyers Anweisungen, befestigt die Taschen am Gepäckträger. Es geht los.
Drei Stunden soll die Tour dauern. Maximal. Beyer tritt kräftig in die Pedale. Sarah folgt ihm auf ihrem klapprigen Rad durch die Nacht. Plattenbauten, eine Siedlung neuer Reihenhäuser, marode Fabrikgebäude. Wie ausgestorben wirkt der Magdeburger Stadtteil Buckau. Regenpfützen haben sich in den Straßenlöchern angesammelt. Irgendwo strömt friedlich die Elbe.
"Dort drüben", sagt Beyer und biegt auf den leeren Rewe-Parkplatz. Zügig streift er sich die Handschuhe über und lehnt das Rad an die Wand. Die Container stehen in einer dunklen Ecke. Beyer zückt die Taschenlampe und öffnet den Deckel. Eine Maus huscht am Bordsteinrand vorbei. Schweigend hievt er blaue Säcke heraus, reißt Löcher hinein und greift mit beiden Händen in den Müll. "Manchmal zerstechen sie mit Absicht in die Jogurtbecher und Milchtüten", sagt Beyer. Er streift die weiße Flüssigkeit vom Ärmel. Unter ausgelaufenem Waschmittel, schmutzigen Tüchern und faulen Pfirsichen findet er zerdötschte Brotbeutel und Jogurts. Sarah blickt skeptisch. "Meinst du, sie sind noch gut?" "Kann man essen", sagt Beyer, sortiert ein paar Jogurts aus und packt sie in den Greenpeacebeutel. Eigentlich ist Beyer Veganer, doch wenn er Käse, Wurst oder frischen Jogurt im Abfall findet, macht er Ausnahmen.
Nach anfänglichem Zögern pikst auch Sarah in einige Beutel in der Tonne. Sie juchzt. "Bananen, so viele Bananen." Eifrig sammelt sie die Stauden und füllt die erste Fahrradtasche.
Verhältnismäßig wenig Beute für Rewe, findet Beyer. Er wirft die dicken Beutel zurück in die Container. Das gehört dazu. "Wir hinterlassen keinen Müll und wir zerstören auch nichts." Wenn er das sagt, blickt er besonders friedlich.
Nächster Stopp ist Norma. Dieser Einkaufsmarkt gehört ausnahmsweise "zu den Guten" in Magdeburg. Beyer hat einen Deal mit einigen Angestellten. "Manchmal stellen sie uns Ware vor die Container", sagt er. Es ist nicht der einzige Markt in der Stadt, der die Aktivisten unterstützt. Zwei Bioläden in der Stadt spenden freiwillig. Bei der Bäckerei ums Eck können sich die Müllsucher Brötchen vom Vortag abholen.Bei Norma findet Sarah gestapelte Paletten vor. Radieschen, Paprika, Jogurt, Pfirsiche. Nicht ganz frisch, aber essbar. Sie freut sich. "Ist besser als Klauen", sagt sie. Letztes Jahr sei sie mal ziemlich knapp bei Kasse gewesen. "Hatte keinen Pfennig mehr, mein Ex war drogenabhängig, hab ihn mit durchgezogen", erzählt sie. Irgendwann sei sie klauen gegangen und erwischt worden. Seit mehreren Monaten engagiert sie sich für die Volksküche. In den Verein kommen Freunde und Bedürftige einmal die Woche, um sich richtig satt zu essen. Die Lebensmittel stammen auch aus Beyers Streifzügen. "Wer einen empfindlichen Magen hat, kann ab und zu mal Probleme bekommen", sagt sie. Besonders im Winter ist die Volksküche gut besucht. Es gibt keine Regeln, jeder zahlt so viel er mag. Einige helfen beim Abspülen oder beim Gemüseschnippeln. "Klar gibt es Schmarotzer, find ich doof, aber kannste nix machen", sagt sie.
Der dritte Stopp auf der Tour ist Plus. Sarahs Taschen sind bereits voll. "Das reicht doch jetzt", sagt sie zu Beyer. Es ist ein Uhr nachts. Seit zwei Stunden sind sie unterwegs. "Ich kann noch Beutel an meine Fahrradtasche hängen", sagt er. "Ich nicht, dann kippe ich um", sagt sie und bleibt stehen. Auch diesmal sind die Tonnen nur halb voll. Beyer schnappt sich die Taschenlampe. Betont enthusiastisch springt er in den Container.
Mit beiden Beinen steht er in dem Müllberg. "Das ist alles noch gut", sagt er. "Ich will heim", sagt sie und dreht sich weg. "Halt mal die Tüten auf, das nehmen wir noch mit", ruft er. "Hab keine mehr", sagt sie und verdreht die Augen.
Trotzdem, Beyer vollzieht das übliche Ritual. Er greift Säcke heraus, stochert, sortiert und wirft den Rest zurück. "Da ist noch so viel Zeug drin", sagt er und seufzt. Dann gibt auch er auf, sie radeln zurück. Voll bepackt, schweigsam, müde. Auf dem Rückweg geht es bergab.
Vor der Tür des Umweltbüros angekommen, laden sie die Tüten ab. Sie türmen Haufen an Obst, Gemüse, Gebäck und Katzenfutter auf den Bürgersteig. Sogar einen Tischgrill und einen Radiowecker haben sie mitgenommen. Ein süßlich-fauliger Geruch zieht aus den Tüten. "Was machen wir mit dem ganzen Zeug?", fragt Sarah. "Das sollten wir jetzt waschen", sagt Beyer. "Das kann Stunden dauern", sagt Sarah und stöhnt. Widerwillig schleppt sie Tüten in die Küche. "Nimm dir mit, was du brauchst", sagt er. Doch Sarah will nicht mehr. "Morgen vielleicht", sagt sie, dreht sich um, stolpert aus der Tür und fährt heim.
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