Müllentsorger in Sozialen Netzwerken: „Sie berichten von Depressionen“
Tausende Philippiner sortieren aus, was uns im Internet an Bildern nicht begegnen soll. Der Berliner Theaterregisseur Moritz Riesewieck hat dort recherchiert.
taz: Herr Riesewieck, Sie kommen gerade von einer vierwöchigen Recherchereise auf den Philippinen zurück. Was haben Sie dort gesucht?
Moritz Riesewieck: In erster Linie Menschen, und zwar diejenigen, die für uns das Internet sauber halten. Die digitale Müllabfuhr unserer Gegenwart.
Was meinen Sie damit?
Damit Sie und ich uns jeden Tag den Freuden der digitalen Welt ergeben können, muss es Menschen geben, die alles aussortieren, was uns auf Facebook und Twitter, Instagram oder Tinder nicht begegnen soll: Bilder von Enthauptungen und Verstümmelungen, Videos von Sex mit Tieren, kinderpornografisches Material oder, viel weniger dramatisch, Dinge, von denen Unternehmen nicht wollen, dass wir sie sehen.
Zum Beispiel?
Tja, gute Frage. Was genau uns alles vorenthalten wird, ist schwer nachzuvollziehen. Die meisten Unternehmen machen ihre konkreten Löschbedingungen nicht transparent. Aber um diese Bedingungen umzusetzen, reichen keine Softwareprogramme, sondern es braucht Menschen, die in der Lage sind, Bilder und Videos, Nachrichten und Informationen in ihrem Kontext zu erfassen – zum Beispiel, ob Bilder ironisch verwendet werden.
Und was hat das mit den Philippinen zu tun?
Das Land ist gerade dabei, zu einem globalen Zentrum für solche Dienste zu werden. Es wirbt intensiv um Start-up-Firmen, die sich vor allem im Großraum Manila ansiedeln und die dafür vier Jahre lang Steuerfreiheit erhalten. Inzwischen arbeiten mutmaßlich zwischen einer halben und einer Million Menschen in diesem Sektor, häufig Frauen aus den unteren sozialen Schichten. Das sind die, die uns das Internet sauber, schön und bequem machen. Früher wurde Elektronikschrott und Giftmüll aus dem Westen auf die Philippinen verschifft, heute ist es der digitale Abschaum, der dort entsorgt wird.
Der Mann: Riesewieck, 30, ist Theaterregisseur und Gründer der Gruppe Laokoon.
Die Veranstaltung: Am Dienstag um 19 Uhr hält er in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin eine Lecture-Performance, die auf seiner Recherche basiert. Weitere Lectures folgen auf der re:publica und beim Theatertreffen der Berliner Festspiele.
Was genau tun diese Leute?
Sie sitzen den ganzen Tag vor dem Computer und sortieren aus den schlimmsten Bildern des Internets die allerschlimmsten heraus. Sie verdienen dafür in der Regel zwischen zwei und sechs Dollar die Stunde.
Ist das ein schlechter Lohn?
Für unsere Verhältnisse natürlich, für Ortsverhältnisse nicht unbedingt. Für viele ist das weit besser, als Müll zu sammeln oder sich zu prostituieren. Aber klar ist auch: Hier werden gerade in großem Stil ganze Teile einer Gesellschaft traumatisiert, Tausende von Menschen, deren Tagesaufgabe darin besteht, im Sekundenrhythmus Schockbilder anzuschauen und durchzuklicken, von denen viele auf der anderen Seite der Welt produziert werden. Sie werden damit einfach alleingelassen.
Inwiefern?
Die Grundvoraussetzung, um überhaupt einen solchen Job zu bekommen, ist meist, eine umfassende Verschwiegenheitserklärung zu unterzeichnen. Diese sieht vor, das über die Arbeit mit niemandem geredet werden darf, nicht mit der Familie und auch nicht mit Kollegen.
Aber mit Ihnen haben die dann frei heraus geplaudert?
Von wegen. Trotz wochenlanger Vorrecherchen konnte ich letztlich nur mit einem Dutzend Beschäftigten sprechen. Nur drei der Beschäftigten waren einverstanden, die Interviews auch auf Tonband aufzunehmen. Viele der Gespräche fanden unter konspirativen Bedingungen statt. Teils saßen wir bei laufendem Motor im Auto, weil die Beschäftigten Angst hatten, sie könnten dabei erwischt werden, wie sie über ihre Arbeitsbedingungen berichten.
Mit wem haben Sie noch gesprochen?
Mit Traumatherapeuten und Psychologen, mit Aktivisten, die versuchen, eine Gewerkschaft zu gründen, und natürlich mit den Unternehmensvertretern selbst. Bei einem der Unternehmen mussten wir für die Dauer unseres Interviews unsere Reisepässe abgeben. Am Ende wurden uns von sechs zuvor schriftlich eingereichten Fragen ganze drei Fragen beantwortet. Der Rest, sagte ein Unternehmenssprecher, könne nicht beantwortet werden. Dann bat er mich um Verständnis: Es gehe hier schließlich auch um seinen Job.
Das klingt wie in einem diktatorischen System ohne Pressefreiheit.
Ja. Und ist das nicht verwunderlich? Wieso ist es ein solches Geheimnis, wie das Innenleben von Unternehmen organisiert ist, deren Produkte wir täglich um uns haben, die unseren Alltag so dermaßen konstituieren, wie etwa Facebook es tut? Es handelt sich bei der Arbeit der Moderatoren ja nicht um irgendwelche Randtätigkeiten, im Gegenteil: Sie garantieren letztlich den Kern des Produkts, das uns Nutzern und den Werbetreibenden ein angenehmes Umfeld verspricht.
Was konnten Sie denn nun herausfinden?
Alle Arbeiter berichten davon, wie sehr diese Arbeit nachhallt. Die Bilder des Tages lassen sie nicht los. Sie berichten von Depressionen, Apathie, Lustlosigkeit und der Schwierigkeit, mit diesen Bildern umzugehen. Viele ihrer Kollegen haben den Job nach wenigen Monate wieder aufgegeben. Und es gibt ein Motiv, das offenbar viele eint: Die Frustration darüber, dass all das Löschen nichts nützt, dass es niemals endet, dass jeden Tag von Neuem, alles wieder von Neuem schmutzig ist.
Gibt es eine psychologische Betreuung für diese Leute?
Es gibt eine Psychologin, die ein Geschäftsmodell daraus gemacht hat, zu prüfen, ob die Leute für den Job geeignet sind, in dem sie Bewerber danach befragt, wie belastbar sie sich fühlen. Das erfüllt die Rolle eines Bewerbungstests – wer sich schwach gibt, wird aussortiert. Die Befragung ermöglicht es den Unternehmen später auch, die Schuld für mögliche psychologische Störungen von sich zu weisen. Es ist eine Alibiveranstaltung. Falls Betroffene sich wirklich an die Psychologin wenden, bekommen sie zur Antwort, sie müssten lernen, mehr Distanz zu ihrer Arbeit aufzubauen.
Sie sagen auch, es sei kein Zufall, dass diese Industrie sich ausgerechnet auf den Philippinen ansiedelt. Warum?
Ein Unternehmen wie Facebook beansprucht für sich, einen universalen moralischen Kodex zu formulieren, auf dessen Basis gefiltert wird. Die Regeln, nach denen Facebook löschen lässt, sind nicht landesspezifisch unterschiedlich, sondern gelten in jedem Land der Welt. Die philippinische Gesellschaft vereint zwei gute Produktionsbedingungen, die dem entsprechen: billige, entgrenzte Lohnarbeit einerseits, aber eben auch ein vom Katholizismus geprägtes Werteverständnis. Der gesellschaftliche Kodex passt perfekt zu der Art der Arbeit.
Was hat Löschen von Internetinhalten mit dem Katholizismus zu tun?
Was wir in Manila sehen, ist die Passionsgeschichte des Internetzeitalters. 90 Prozent der philippinischen Bevölkerung sind katholische Christen, das ist ein altes Erbe der spanischen Kolonialherrschaft. Auch in Deutschland hat doch jeder die Bilder der Osterprozessionen im Kopf, wenn sich auf den Philippinen Hunderte Menschen ans Kreuz nageln lassen, sich mit Nägeln die Wangen durchbohren oder anderswie geißeln lassen. Das sind die radikalsten Christen der Erde, und ein Grundmotiv ihrer Religion lautet: Wir nehmen das Kreuz der Welt auf unsere Schultern. Genau so verstehen auch diese Menschen ihre Arbeit. Sie sagen: Irgendjemand muss das ja machen, also tun wir es. Sie tun es nicht nur günstig, sie empfinden auch einen Auftrag dabei. Die haben eine Mission. Die wollen das Böse aus der Welt schaffen.
Damit haben sie ja auch recht. Irgendjemand muss den ganzen Müll ja aus dem Netz filtern.
Natürlich. Und es stimmt ja: Sie sind diejenigen, die letztlich die Errungenschaften des Internets für uns bewahren. Es stünde uns aber gut an, uns damit auseinanderzusetzen. Dass wir bestimmte Bilder nicht sehen, hat ganz konkrete Hintergründe. Wenn wir schon die Bilder nicht sehen, sollten wir uns wenigstens die Hintergründe anschauen.
Herr Riesewieck, sind Sie bibelfest?
Ich bin zumindest katholisch, aber das wohl auch eher theoretisch.
In Psalm 103, Vers 12 heißt es: „So fern der Osten vom Westen liegt, so weit hat Gott entfernt von uns unsere Schuld.“ Was sagt uns das?
Dass wir die ersten Begründungen für ein effektives Outsourcing von Arbeitskraft und Verantwortung schon aus der Heiligen Schrift herleiten können. Übersetzt steht da ja: Seht zu, dass die Sünden dieser Welt möglichst woanders verwaltet werden. Da steckt viel Wahres drin. In Zeiten einer globalisierten Dienstleistungsgesellschaft können wir das ja sehr genau beobachten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen