Motorrad-Raser in Bremen vor Gericht: Im Temporausch
Der Videoblogger Alpi T. steht wegen Mordes vor Gericht, weil er einen Fußgänger totgefahren hat. Mit Youtube-Videos seiner Raserei hat er Geld verdient.
Noch sichtlich unter dem Eindruck von Betäubungsmitteln fragte T. die Polizisten: „Was ist mit dem anderen?“ Woraufhin der Polizeikommissar ihm mitteilte, dass der „Unfallgegner“ gestorben sei. In seinen Bericht schrieb der Polizist: „Daraufhin verschlechterte sich sein seelischer Zustand.“ Vor Gericht führte der Beamte aus: „Er fing an zu weinen und schrie laut: ‚Nein! Nein! Das kann nicht sein!‘“ Ein Seelsorger wurde dazugeholt und T. schloss die Augen.
Weil er regelmäßig seine wahnwitzigen Motorradfahrten durch Bremen mit einer Helmkamera filmte, im Internet veröffentlichte und damit sogar Geld verdiente, klagte ihn die Staatsanwaltschaft wegen Mordes an. Mehr noch: T. wollte mutmaßlich von einem Unfallort fliehen. Er hatte demnach zum Tatzeitpunkt keinen A-Führerschein, den er für sein Motorrad, eine 200 PS starke Kawasaki Ninja, benötigt hätte. Dies wäre die Verdeckung einer Straftat. Ein niederes Motiv.
T. hat vor Gericht versprochen, alle Fragen zu beantworten. Gleich am ersten Prozesstag sagte er, dass er alles zutiefst bereue.
„Hat Ihnen niemand gesagt, dass man nicht so fährt?“
Fragen hat vor Gericht auch der Sohn des Opfers. Am dritten Prozesstag wurden Ausschnitte aus den Youtube-Videos von T. gezeigt. Der Angeklagte hat seinen eigenen Youtube-Kanal „Alpi fährt“. Das Gericht sieht in den Sequenzen zahlreiche gravierende Verkehrsverstöße, Straftaten und Beschimpfungen des Täters.
Der Sohn des Opfers fragt den Angeklagten daraufhin: „Herr T., Sie haben gesagt, Sie wollen Verantwortung übernehmen. Was meinen Sie damit?“ T. antwortet. Diesmal blickt er seinem Gegenüber direkt in die Augen. Am ersten Prozesstag konnte er diesen Blick nur kurz aufrecht erhalten. Aus Scham, wie es von der Verteidigung heißt. Heute blickt er länger in Richtung der Nebenklage, während er spricht.
Alpi T., nach Beinahe-Unfall
Dort sitzen zwei Töchter und ein Sohn des 75-Jährigen, den T. auf dem Gewissen hat. Der Unfallfahrer sagt: „Ich will mich hier vor Sie stellen und zu dem stehen, was passiert ist. Ich will zeigen, dass es mir nicht egal ist. Ich bereue zutiefst. Ich beuge mich, egal was für ein Urteil fällt.“
Dem Angehörigen reicht das nicht. Er fragt weiter: „Warum? Hat Ihnen niemand gesagt, dass man nicht so fährt?“ Wieder antwortet T.: „Es baut sich ein Puffer auf zwischen Fahrweise und Gefahr.“ Das ist entscheidend. T. versucht zu erklären, warum er davon ausgegangen sei, dass alles gut gehen werde. Im juristischen Sinne ist das der Knackpunkt. Denkt der mutmaßliche Täter: „Und wenn schon“, ist es bedingter Vorsatz, eine Verurteilung als Mörder wäre denkbar. Denkt er: „Es wird schon alles gut gehen“, ist es in der Regel fahrlässige Tötung.
Innerorts mit 170 Stundenkilometern
T. erzählt im Laufe des Prozesstages von mehreren Situationen, in denen es geknallt hat – und von anderen, in denen gerade so alles gut gegangen ist. Ein befreundetet Motorradfahrer, mit dem er zusammen unterwegs gewesen sei, war in einer Kurve gestürzt, bei hoher Geschwindigkeit. Danach sei er unversehrt aufgestanden, sagt T. Er habe nichts außer ein paar Abschürfungen und Prellungen gehabt. T. erzählt, dass er viele solcher Beinahe-Unfälle und Fast-Katastrophen „gemeistert“ hätte. „Ich hatte den naiven Gedanken, dass schon alles gut gehen würde.“
Zweifel daran streuen vor allem seine Videos. Insbesondere eines lässt tief blicken. Es trägt den Titel „Mitternachtsrunde Random“. Es ist Samstagabend, nach Mitternacht. Immer wieder lässt T. in dem Video den Motor seines Motorrads aufheulen. Er will damit dicke Autos auf der Bremer Disko-Meile zu spontanen Rennen provozieren. Er nennt es „wir jagen heute“ und „Frischfleisch“. Dann lässt er die Autos vorfahren, um sie mit seiner Maschine zu überholen. Er kommentiert die Rennen, lacht und jubelt. Seine Stimme überschlägt sich, ist beinahe fiepsig.
Dabei beschleunigt er innerorts bis auf 170 Stundenkilometer. An einer Stelle des Videos überfährt er fast einen Fußgänger mit über 100 km/h, der die ansonsten leere Straße überqueren will. Eine Szene, die tief blicken lässt. Denn danach sagte Alpi T. Sätze, die ihm nun zum Verhängnis werden könnten: „Was für ein behinderter Hurensohn. Er bleibt stehen wie ein Reh. Er wäre gestorben. Ich hätte ihn in seine Einzelteile zerlegt wie bei Lego.“
Heute sagt er, dass er in dieser Situation gut reagiert habe. Er sei schließlich an dem Fußgänger auf der Fahrbahn vorbeigekommen. Im Video erklärt er, dass ein Motorrad-Anfänger den Fußgänger vermutlich überfahren hätte, wenn er so schnell unterwegs gewesen wäre. Alpi T. erklärt, wie es geht: „Vorbeigucken und vorbeifahren, ganz einfach.“
Alpi T. schläft schlecht – „wegen der Schuldgefühle“
In der Tatnacht überfuhr er Arno S., der bei Rot über die Ampel gegangen war. Laut Zeugen soll T. sich mit Autobahngeschwindigkeit genähert haben.
„Was würde er seinen Youtube-Fans heute empfehlen“, fragt der hinterbliebene Sohn von Arno S. dann. „Ich würde 100 Prozent davon abraten, so zu fahren“, sagt T. Die Aussagen, die er in den Videos getroffen habe, entsprächen nicht seinem Wesen. Sie seien die Sprache der Motorrad-Szene. Wenn er auf das Motorrad steige, werde er zu einer anderen Person.
Eine langjährige Vertraute von T., seine Ex-Freundin, mit der bis 2015 fünf Jahre lang zusammen war, sagte: „Er ist extrovertiert, gibt sich selbstbewusst, hat aber versteckte Unsicherheiten.“ Er habe bisher rund um die Uhr Sport gemacht: Longboard fahren, joggen und Tricking, eine Mischung aus Kampfsport und Breakdance. Seit dem Unfall könne er das nicht mehr, weil sein Arm gelähmt sei.
Noch im Krankenhaus habe er sie um Beistand gebeten. Sie telefonieren zweimal die Woche, 60 Briefe habe er ihr aus der U-Haft bereits geschrieben. „Wegen der Schuldgefühle“, sagt die 23-jährige Studentin, „hat er Schwierigkeiten, in den Schlaf zu finden.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin