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Mord an israelischen JugendlichenDie private Tragödie und die Nation

Kommentar von Moshe Zuckermann

Israel instrumentalisiert individuelles Leid für eigene Zwecke. Das macht die Trauer um die ermordeten Teenager perfide scheinheilig.

Trauer während der Beerdigung eines der drei Jugendlichen am 1. Juli. Bild: dpa

D ie Tragödie der drei tot aufgefundenen entführten Jugendlichen ist in Israel zu einem Großereignis nationalen Ausmaßes hochdebattiert worden. Über die persönliche Leiderfahrung der Familien und ihre nähere Umgebung hinaus gerann die Sorge um das Befinden der Entführten ebenso wie dann das Entsetzen bei der Nachricht über ihren gewaltsamen Tod zu einem kollektiven Aufschrei, an dem sich Medien, Politiker, Militärfunktionäre, Prominenz, Internetaktivisten und „einfaches Volk“ mit größter Emphase beteiligten.

Viel Ideologisches wurde dabei generiert. Dazu hatten nicht zuletzt die Eltern der Entführten beigetragen, allen voran die Mütter, die ihre Sorge, ihre Hoffnung und ihr Leid auf die Ebene des Nationalkollektiven hievten.

Das ist wenig verwunderlich. Es handelt sich ja um nationalreligiös gläubige Siedler, die ihr Leben im besetzten Westjordanland nicht zuletzt als einen nationalen Auftrag religiöser Bestimmung begreifen.

Als dann das gewaltsame Ende der Entführten zur Gewissheit wurde, waren die politischen Ideologen und Sachwalter der praktischen Handhabung des tragischen Ereignisses mit ihren Deklarationen und Forderungen schnell bei der Hand. Das Kabinett, das zusammentrat, um die Reaktion auf den Mord zu erörtern, war in den Meinungen seiner Mitglieder gespalten, wie die Tageszeitung Haaretz berichtete.

Netanjahu sprach von drei zentralen Zielen der anvisierten Reaktion: Gefangennahme der Entführer, Angriff auf Aktivisten und Infrastruktur der Hamas im Westjordanland sowie Aktionen gegen die Hamas im Gazastreifen. Gleichwohl, so die Einschätzung des Berichts, erweckte er den Eindruck, als wolle er eine größere Aktion verhindern und sich mit einer „relativ moderaten“ begnügen.

Siedlungsbau als Reaktion

Bild: imago/Gezett
Moshe Zuckermann

ist Soziologe und Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Seine letzten Buchpublikationen sind:

„Wider den Zeitgeist [I und II] – Aufsätze und Gespräche über Juden, Deutsche, den Nahostkonflikt und Antisemitismus" (Laika 2012/2013).

„Antisemit! – Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument“ (Promedia 2010).

„Die Angst vor dem Frieden – Das israelische Dilemma“ (Aufbau 2010).

Das eigentliche Politikum bestand aber in den Vorschlägen des Premiers und seines Verteidigungsministers Mosche Jaalon, dass die Reaktion auf die Entführung und ihren grausamen Ausgang die Erweiterung des Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten einschließen sollte.

Der Vorsitzende des Ausschusses für Außenpolitik und Sicherheit, Ze’ev Elkin, schlug vor, am Ort, an dem die Leichen der Entführten gefunden wurden, eine Siedlung zu errichten.

Naftali Bennett, Minister für Wirtschaft und Handel und Vorsitzender der mitregierenden Partei Jüdisches Heim, bediente sich des Klischees eines Aufrufs zur „adäquaten zionistischen Antwort“, ein Codewort für „Erweiterung des Siedlungsbaus und Tausende Wohneinheiten mehr in den besetzten Gebieten“, wie Haaretz-Publizist Zvi Bar’el anmerkte.

Es ist zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen noch ungewiss, wie die israelische Reaktion ausfallen wird. Sowohl aus Europa als auch aus den USA kamen bislang Aufrufe, sich zurückzuhalten und eine Eskalation der Gewalt um jeden Preis zu vermeiden. Es scheint indes ohnehin, als sei keine der Seiten an einer substanziellen Eskalation interessiert. Denn gemessen daran, was Israel im besetzten Westjordanland bereits während der Suche nach den Entführten angerichtet hat, kann eine Steigerung der Terrorisierung der palästinensischen Bevölkerung nichts anderes als einen neuen Krieg gegen die im Gazastreifen regierende Hamas bedeuten.

Israel hat die Entführungen instrumentalisiert

Die Erfahrungen der Israelis in beiden vorangegangenen Gazakriegen dürfte sie davon abhalten, einen neuen Krieg zu initiieren. Denn bei allem immensen Schaden, den sie anrichteten, vermochte Israel eines nicht zu erreichen: die Zerschlagung der Hamas – weder als politische noch als eine (wie immer bescheidene) militärische Macht.

taz.am wochenende

Was passiert, wenn die Flüchtlinge aus dem Fernsehen plötzlich am eigenen Gartentor sitzen? Die Geschichte einer besonderen Nachbarschaft in Berlin-Kreuzberg lesen Sie in der taz.am wochenende vom 5./6. Juli 2014. Außerdem: Nach dem Psychiatrie-Skandal steht Gustl Mollath wieder vor Gericht. Angeklagt sind diesmal die anderen. Und: Was genau machen diese Winke-Katzen in den Schaufenstern? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Israel musste sich daher immer wieder mit weniger begnügen. Aber genau das hat es diesmal bereits vollbracht: Disproportional wie stets reagierte es auf die durch den Terrorakt entstandene Herausforderung, etwas zu tun, was das konkrete Problem zwar nicht zu lösen vermag, aber den Anschein erweckt, etwas getan zu haben. Es aktivierte seine Streitkräfte wahllos im okkupierten Land.

In der Tat darf davon ausgegangen werden, dass Israel den Entführungsakt dazu instrumentalisierte, zwei von vornherein anvisierte Ziele zu verfolgen: zum einen die Basis der Hamas im Westjordanland zu attackieren, mithin auch die von der Rechten Israels monierten Defizite des Gilad-Schalit-Deals „wiedergutzumachen“, indem man die bei diesem Deal freigelassenen palästinensischen Gefangenen nach und nach wieder einfing und einsperrte (und dies als einen der Erfolge der Aktion verbuchte); zum anderen einen Keil in die jüngst gebildete Koalition der PLO mit der Hamas zu treiben, wobei man sich in dieser Zielsetzung einig sah mit der PLO-Führung.

Dass Mahmud Abbas’ Sicherheitskräfte mit den israelischen bei der Suche nach den Entführten kooperierten, ist ja selbst von der Mutter eines der Entführten lobend hervorgehoben worden. Gleichwohl handelte es sich bei der von Gewalt durchwirkten Suche um eine Schimäre: Man speiste die Hoffnung der Bevölkerung, man werde die Entführten lebend finden, auch dann noch, als es (zumindest den Sicherheitskräften) bereits klar war, dass man diese Hoffnung wird enttäuschen müssen.

Derweil hat sich „das Volk“ der Handhabung der Reaktion auf den Ausgang des Entführungsakts angenommen: Araber auf Jerusalemer Straßen wurden wahllos angegriffen, eine zur Rache aufrufende, spontan-orchestrierte Internethetze wurde in Gang gesetzt, ein 16-jähriger Palästinenserjunge wurde tot aufgefunden. Man weiß noch nicht, wer ihn umgebracht hat, weiß aber sehr wohl, womit man es bei den „Preisschild“-Aktionen (tag mechir) jüdischer Terroristen zu tun hat. Man vermutet eine von jüdischen „Araberjägern“ vollzogene Racheaktion.

Dämonisierung der Feinde

Im Leitartikel der Haaretz vom 2. Juli heißt es: „Der Premierminister, der vorgestern den Vergleich zwischen Juden und Arabern zog, behauptete, dass 'uns eine breite und tiefe moralische Kluft von unseren Feinden trennt: Sie heiligen den Tod, wir das Leben; sie heiligen die Grausamkeit, wir das Erbarmen.' Eine Entführung und Ermordung eines arabischen Jungen – wenn sich erweisen sollte, dass sie von Juden vollführt worden ist – wird diesen pauschalisierend verlogenen Vergleich zerstören.“

Wohl wahr, aber es bedarf nicht erst eines Beweises in diesem konkreten Fall, um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen. Denn die Instrumentalisierung privater Tragödien zu „kollektiven“ Zwecken ist eine ideologische Praxis, in der sich die israelische politische Kultur seit Jahrzehnten übt und es zur wahren Meisterschaft gebracht hat.

Es will zuweilen scheinen, dass jede Gewalttat, die jüdischen Israelis (von palästinensischer Hand) widerfährt, den ideologischen Wortführern der israelischen politischen Kultur zupass kommt – sie ermöglicht die erwünschte Dämonisierung der Feinde bei Selbstvergewisserung der eigenen kollektiven Tugendhaftigkeit.

Dass dabei die Unsäglichkeit der von Israel betriebenen Okkupation, welche die palästinensische Gewalttaten erst eigentlich zeitigt, in den Hintergrund gerät, ist das latente Ziel der ideologisierenden Manipulation. Die Ausblendung des realen Kausalnexus gerinnt zur kollektiven Verblendung, zur nationalen Verdrängung des realen Wirkzusammenhangs persönlicher Leiderfahrung und privater Tragödien.

Netanjahu mag sich noch so manipulativ, noch so ideologisch-verlogen über den Vergleich von Juden und Arabern auslassen, er wird die private Katastrophe noch so selbstherrlich zu fremdbestimmten Zwecken funktionalisieren wollen, aber er wird letztlich nicht um den elementaren Vorwurf herumkommen, dass er es ist, der den Frieden mit den Palästinensern nicht nur scheut, sondern auch alles daran setzt, eine Struktur herzustellen, die die Möglichkeit eines solchen Friedens unterwandert, diese mithin mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern trachtet.

Er selbst stellt dabei nur die Personifizierung der ideologischen Gesamttendenz dar – jener Tendenz, die die palästinensische reaktive Gewalt zur Raison d’être seiner friedensfeindlichen Politik hat verkommen lassen. Nicht zuletzt das ist es, was an der staatlichen Trauer um die ermordeten Jugendlichen so perfide scheinheilig erscheint.

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8 Kommentare

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  • Ein guter Artikel. Es ist doch wie immer, irgendwas passiert und Israel schlägt mit harter Hand zurück. Laut den jährlichen Berichten von Amnesty International sind es klar die Palästinenser die terrorisiert werden. Folglich wächst die Bereitschaft zu extremistischen Taten seitens der Palästinenser. Und das wiederum spielt den israelischen Hardlinern in die Hände. Wer trägt die Verantwortung für den Tod der 3 jüdischen Siedlerjungen?

    Herr Zuckermann spricht zurecht von Selbstzerstörungspolitik.

  • Sehe es wie @A.FRANKE : Eine treffende Analyse des israelischen Historikers Moshe Zuckermann, die auch deshalb glaubwürdig ist, weil sie als Anliegen das gute

    Leben aller (der israelischen wie palästinensischen Bevölkerung) im Blick hat. Da bekanntlich die Hoffnung zuletzt stirbt, ist zu hoffen, dass die kritischen und mahnenden Einlassungen Zuckermanns zur israelischen Selbstzerstörungspolitik von denen gehört wird, die sie mit zu verantworten haben!

  • Zuckermann startet seinen Kommentar mit dem mehrmaligen Vorwurf, die "privaten Tragödien" der israelischen Familien würden durch den Staat Israel instrumentalisiert und kollektiviert. Er übersieht, dass eine Entführung von Kindern durch Bewohner eines Nachbarstaates in keinem westlichen Land eine "private Tragödie" sein kann, sondern zwangsläufig Publik wird.

     

    In einer Demokratie werden sich Stimmen aller politischen Richtungen zu einem solchen Ereignis äußern. Aber nicht jede israelische Stimme zum Thema spiegelt eine Mehrheitsmeinung wieder. Auch das sieht Zuckermann nicht. Er pickt sich als Verstärkung seiner Argumente die radikalsten Ansichten heraus („Erweiterung des Siedlungsbaus“). Das ist kein reales Abbild israelischer Politik.

     

    Es folgen im Text eine Reihe von wunderlichen Spekulationen: Israel reagiere „disproportional“ und „wahllos“. Israel profitiere von den Entführungen, denn man könne darauf hin die Hamas angreifen, einen Gefangenenaustausch (Gilad-Shalit) wieder gut machen und die PLO politisch beeinflussen. Alles samt große Vorwürfe ohne haltbare Grundlage.

     

    Abscheulich ist, was dann kommt. Zuckermann sagt in einem Satz, palestinensische Gewalttaten würden "gezeitigt" (heisst: Zum Entstehen gebracht) durch israelische Okkupation und auch dazu genutzt die Wahrnehmung von Okkupation in den "Hintergrund" zu drängen. Mit anderen Worten heißt das laut Zuckermann: Die Israelis sind selbst Schuld ("Kausalnexus"), dass die drei Kinder gestorben sind und sie sind gleichfalls gewollter Nutznießer, da andere politische Diskussionen in den Hintergrund geraten. Als hätten sie ihre Kinder absichtlich mit eigener Hand erschossen.

    Was für ein widerlicher, menschenverachtender und im Grunde antisemitischer Vorwurf.

     

    Ich finde dieser Zuckermann Kommentar verbirgt hinter geschwollenen Schachtelsätzen untragbare Äußerungen. Volksverhetzung! Glückwunsch Taz.

    • 3G
      3618 (Profil gelöscht)
      @grim:

      "Entführung von Kindern durch Bewohner eines Nachbarstaates "

      Das sind nicht die Kinder eiens Nachbarstaates, sondern die Kinder von Siedlern, die den ursprünglichen Bewohnern das Land raubten, nicht selten in der Aktion "Preisschild" die Beraubten zusammenschlägt, ihr Eigentum zerstört und ihre Olivenbäume ausreißt.

      Heißer Tip:

      http://www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/die_story/videodiestoryfivebrokencameras100.html

      Da sehen Sie, wie es auch friedlich demonstrierenden und vor den Gerichten siegenden Palästinenser geht.

      • @3618 (Profil gelöscht):

        DANKE für den aufschlußreichen Link!

        Unter "die story" /Titel "5 zerstörte Kameras" (tv-Reportage) brachte hierzu weitere Erkenntnisse:

         

        U.a. aus Rache wurden u.a. von Siedlern auch eine Reihe von paläst. Olivenbäumen angezündte.... (u.v.a.m.!!)

        Diese "Frommen" - Fundamentalisten aus aller Herren Länder, vom Judenstaat seinerzeit eingeladen ('heim ins Reich'), um dann direkt im Palästinenser-Gebiet einquartiert zu werden. Ohne das geringste Unrechtsbewußtsein führen sie sich dort auf wie die klassischen "Herrenmenschen".

         

        Ansonsten schließe ich mich Ihren Ausführungen ebenfalls voll an. Man fragt sich, bis zu welchem Punkt die Nethanjahu-Regierung diese Unterdrückungspolitik eigentlich noch weitertreiben will, bis dann vollends alles ausufert und kein Stein mehr auf dem anderen bleibt.... bevor die Nethanjahu-Regierung vielleicht einmal umdenkt.

      • 3G
        3618 (Profil gelöscht)
        @3618 (Profil gelöscht):

        eijeih, ich sollte selbst mal vorm Posten Korrektur lesen: zusammenschlagen, Eigentum zerstören und Olivenbäume ausreißen.

        Nur so zur Ehrenrettung.

  • 3G
    3618 (Profil gelöscht)

    Sehr treffend, diese Analyse.

  • Demnach wären also in Israel, die dämonischeren Kräfte am Werk?

    Ist das denn tatsächlich so ??

    Geben die Palästinenser IM GRUNDE GENOMMEN nur jeweilig gewalttätige Antworten, weil die in Moshe Zuckermanns Kommentar benannten, israelischen dämonischen Kräfte keinen Frieden geben wollen?

    Fragen, Fragen, Fragen...