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Monumental menscheln

Morsch geht es besser. Und am Deutschen Theater Berlin bekommt Andreas Kriegenburg Heiner Müller und Dea Loher nicht zusammen. So befiehlt er nur zu guter Letzt, was wir zu fühlen haben

von ROBIN DETJE

Dea Loher ist eine 37-jährige preisgekrönte Dauerhoffnung des deutschen Theaters; als Dramatikerin lautet ihr Motto „Versöhnen statt spalten“. Die Figuren in ihren Stücken sind unglücklich, die Frauen am unglücklichsten, und sie sind es, um unser eigenes Glücksverlangen zu stärken. Sie leiden, frieren, bluten und verrecken, damit wir endlich unser eigenes Leid erkennen und beginnen, für soziale Gerechtigkeit und Wärme zu kämpfen. Loher schreibt Texte, die kunstfertig nach Literatur klingen, und vertritt mit ihnen klar sozialdemokratisch geprägte gesellschaftliche Anliegen.

Heiner Müller, ein vor fast sechs Jahren gestorbenes Monument der deutschen Literatur, war der gespaltenste aller Gespaltenen, seinen Freunden als freundlicher Mensch bekannt, in seinen Texten auf der Flucht in eine gnadenlos asoziale Kälte. Müllers Kälte ist Kälte ist Kälte, das Wort Versöhnung kommt einem nicht in den Sinn. Literatur bleibt Text und wird in winzigen, gewichtsverdichteten Portionen aus Eis-, Stahl und Steinbergen gemeißelt. Im Jahr 1990 hat Dea Loher sich einmal in einem Studiengang „Szenisches Schreiben“ an der Berliner HdK eingeschrieben, der gerade von Heiner Müller geleitet wurde, mehr haben die beiden nicht miteinander zu tun.

Der Regisseur Andreas Kriegenburg war zur Wendezeit Ost-Underground und inszeniert heute nach vielen Jahren in Hannover, am Wiener Burgtheater und überhaupt überall. Das Theater ist ihm ein großes Spielzeug, an dem er seinen Stilwillen austobt. Er beglaubigt ihn auf deutscheste Weise, indem er die Figuren seiner Bühnenarbeiten in die tiefste Verzweiflung hinunterwürgt – und dann noch ein Stück tiefer. Die wichtigsten Ausdrucksmittel der Kriegenburg-Schauspieler sind die autistische Zuckung und der Hospitalismus; ihr Lieblingskostüm ist das des Pierrots und Slapstick-Komikers. Endlich deutsch, endlich wahr: Buster Keaton in der Nervenklinik. Das ist nicht mehr komisch, aber tief ist die Verzweiflung, kühl ihr stilisiertes Gewand.

Seit Jahren ist Andreas Kriegenburg ein treuer Loher-Regisseur und setzt auf ihren Sprachstil seinen Regiestil obendrauf. Nun hat er für das Große Haus des Deutschen Theaters in Berlin Müllers Text-Eis-Stahl-Steinbruch „Verkommenes Ufer/Medeamaterial/Landschaft mit Argonauten“ mit seiner ursprünglich Hannoveraner Inszenierung von Dea Lohers Kurzprosa „Berliner Geschichte“ aus dem Jahr 2000 kombiniert. Auch die großen Stadttheater müssen heutzutage beim Einkauf sparen und vorgefertigte Einzelteile wie Module zu neuen Einheiten zusammenstecken. Man lernt aus dem zweiteiligen Abend für wenige Schauspieler auf karger Szene noch einmal, dass Autor und Autorin nichts miteinander zu tun haben: Loher menschelt, Müller monumentelt. Und Kriegenburg würde am liebsten monumental menscheln, was leider nicht geht. Man heizt seine Wohnung nicht mit Eis und Stein. Deshalb erzählt der Müller-Teil etwas über das Deutsche Theater, der Loher-Teil über die große Schauspielerin Wiebke Puls, die mindestens zwei Meter misst.

„Verkommenes Ufer“ beginnt im theaterüblichen Sinnlichkeitskrampf. Jugend wühlt ineinander herum und schwitzt. Jason (Sven Lehmann) und Medea (Steffi Kühnert) tragen Lederrock und Muskelshirt, wohnen vermutlich in SO 36 und lassen viel überschüssige Energie aneinander aus, wozu das Mitglied eines autonomen Percussion-Kollektivs auf rostige Eisenplatten haut. Erleichternd zu sehen – sie geben nur die Vorgruppe für den Auftritt einer Rentnerband ab: In Form von Gudrun Ritter erscheint „Medea II“, um Jahrzehnte gealtert. Auf der Drehbühne kommen ihr einerseits der heimische Herd, andererseits Horst Lebinsky als Rentnergatte König Jason am Küchentisch entgegen, der gern ein Buch lesen würde, sich aber den störenden Attacken fraulicher Restwildheit ausgesetzt sieht. Wann immer Medea die ergraute Löwenmähne schüttelt, steigen graue Wolken auf: Märkischer Sand in ihren Haaren, Marmor- und Theaterstaub.

Was eine Weile leicht und komisch funktioniert, wird irgendwann in vernichtenden Ernst hineingewürgt – vielleicht im kriegenburgschen Würgreflex, vielleicht von den Schauspielern selbst, die zeigen wollen, dass Theaterspielen kein Spiel ist. Müllers Text muss also ausgehalten werden, wobei bewiesen wird: In der Jugend geht es wild daher, aber morsch geht es besser, und am Deutschen Theater gilt die Erfahrung des Alters noch etwas. Die Jungen müssen wühlen und schwitzen, die Alten dürfen verstehen, was sie sagen, und es zeigen, indem sie Müller zu einem wohlüberlegten Singsang verfremden (Lebinsky: „Woos wüllst duuu?“- Ritter: „Stööörben!“). Gegen Ende der Kriegenburg-Inszenierung sitzen und liegen die Jungen schlafend da, erschöpft vom Aufruhr der eigenen Triebe. Aber die bösen Alten sind noch wach.

In Dea Lohers „Berliner Geschichte“ hängt die Schauspielerin Wiebke Puls in der Luft, in einem kleinen, aus dem Schnürboden baumelnden Wohnungskasten, stößt mit dem Kopf an die Decke und beugt sich brav darunter hin. Nahrung und Flüssigkeit kann ihre Figur, ein „Großstädter“, nicht bei sich behalten, am liebsten onaniert er zwanghaft in die Zimmerecke. Dea Lohers „Großstädter“ leidet im Kreuzberg von heute so wild wie früher ein Proletarier bei Döblin. Er ist ein sozialer Härtefall, ihn treibt unkontrollierbares Selbstmitleid, das therapieresistent wird. Bei Kriegenburg klemmt er sich unter die Zimmerdecke, kreuzigt sich und erbricht ein halbzerkautes Croissant.

Im Pierrot- und Slapstick-Komiker-Gewand soll Wiebke Puls der Loherschen Sozialromantik Paroli bieten, und sie tut es virtuos, kühl und präzise. Vielleicht geht sie dabei weiter, als der Regisseur es möchte: Die Autorin zielt auf warmes Mitgefühl, Kriegenburg aber auf heißes Mitleid, wobei er an unser Selbstmitleid appelliert. Nach 40 Minuten Kunstfertigkeit von Wiebke Puls befiehlt uns Andreas Kriegenburg daher zum Schluss mit donnernder Rockmusik, was wir zu fühlen haben. So glotzt dieser zusammengeschraubte Theaterabend mal mehr, mal weniger romantisch; dabei kann man viel über das Theater lernen, und über den Fluch des Mitgefühls. Es geht auch teurer, doch so geht es auch.

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