Montagsinterview mit Klaus Eschen: "Von meinem Vater habe ich sehen gelernt"
Klaus Eschen ist eigentlich eher ein nüchterner Jurist. Nur bei einem Thema übermannt ihn die Rührung: Wenn er vom Schicksal seines Vaters Fritz Eschen erzählt.
taz: Herr Eschen, Sie haben vor zwei Jahren Ihre Anwalts-und Notartätigkeit an den Nagel gehängt. Womit verbringen Sie jetzt Ihre Zeit?
Klaus Eschen: Ich bewege mich wie ein Flaneur mit meiner Kamera durch die Stadt und halte Veränderungen fest. Momentan faszinieren mich die Bahnhöfe der Ringbahn, die einmal quer durch alle sozialen Sektoren der Stadt fährt - was man schon an der Bahnhofsarchitektur ablesen kann. Aber ich bin selten mit meinen Bildern zufrieden.
Ihr Vater Fritz Eschen war einer der bekanntesten deutschen Reportagefotografen. Verspüren Sie den Ehrgeiz, in seine Fußstapfen zu treten?
Die Familie: Klaus Eschen wurde 1939 in Berlin als jüngerer von zwei Söhnen der Amerikanerin Gertrude "Lipsy" Thumm und des jüdischen Berliners Fritz Eschen geboren. Fritz Eschen war ein bekannter Fotojournalist, der die Nazizeit in Berlin überlebte. Lipsy Eschen-Tumm war eine der Frauen, die 1943 in der Rosenstraße gegen die Inhaftierung ihrer jüdischen Männer demonstrierten. Nach dem Krieg lebte die Familie wieder in Berlin.
Der politische Jurist: 1969 gründete Klaus Eschen zusammen mit Horst Mahler und Hans-Christian Ströbele das Sozialistische Anwaltskollektiv, das mit der Verteidigung von RAF-Mitgliedern bekannt wurde. 1979 war Eschen Mitgründer des kritischen Republikanischen Anwaltsvereins zusammen mit u. a. Otto Schily und Gerhard Schröder. Zwischen 1992 und 2000 war er Verfassungsrichter in Berlin, von 1993 bis 1999 auch Notar in Brandenburg. Klaus Eschen trat 2002 nach 20 Jahren aus der SPD aus, weil man ihm untersagte, zur Wahl des grünen Direktkandidaten Ströbele aufzurufen.
Die Fotos: 2001 veröffentlichte Klaus Eschen eigene Fotos in dem Buch "Berlin, Fotografien 1960-1970". Nach dem Tod seines Vaters 1964 verwaltete er dessen fotografischen Nachlass. Eine Auswahl von Nachkriegsfotografien werden unter dem Titel "Berlin unter dem Notdach" noch bis zum 19. Juni bei C/O Berlin gezeigt.
Durch meinen Vater habe ich das Fotografieren quasi osmotisch durch die Haut aufgenommen. Als ich zehn war, schenkte er mir meine erste Kamera. Er nahm mich auch oft mit, wenn er fotografierte. Von ihm habe ich sehen gelernt.
Wie ging das?
Er hat mich gelehrt, nicht nur auf die äußere Gestalt eines Hauses oder eines Menschen zu achten, sondern darauf, was das Charakteristische an ihm ist. Seine Arbeiten hatten nichts Statisches, er hat Fotos nie gestellt und nur Leute fotografiert, die ihn interessierten. Vielleicht fotografiere ich darum auch nicht systematisch, sondern nur, wenn ich Lust dazu verspüre.
Als Rentner leben Sie jetzt nach Lust und Laune?
Durchaus. Ich lebe nicht üppig, aber ich kann leben. Ums Geld ging es mir ohnehin nie. Anwalt war ich ja nur bis 1993. Dann bin ich Notar im brandenburgischen Teltow geworden - nicht um reich zu werden, sondern weil mich die Probleme der linken Mittelschicht in Berlin gelangweilt haben. In diesen Lehrerkonflikten und Ehestreitigkeiten, die aus bürgerlicher Rechthaberei entspringen, wollte ich keine Rolle spielen.
Notare verdienen gut.
Ich habe mich in Teltow als Verbraucherschützer gefühlt. Ich bin bewusst in den Osten, um deutlich zu machen, dass der Rechtsstaat Schutz bietet. Und nicht nur eine Bedrohung ist, als die ihn viele DDR-Bürger zunächst empfanden. Ich erklärte den Leuten, dass sie weder dem Verkäufer noch dem Makler glauben dürfen, sondern nur ihren Augen. Bei Maklern war ich deshalb unbeliebt. Aber das ist ja auch meine Aufgabe, die Schwachen vor Schaden zu schützen.
Sind Sie ein politischer Mensch?
Ja, aber kein partei-, sondern ein berufspolitischer: So begann unser Engagement im Sozialistischen Anwaltskollektiv …
… das Sie 1969 mit Christian Ströbele und Horst Mahler gegründet haben.
Uns ging es darum, die Grundsätze des Rechtsstaats in den juristischen Alltag zu holen. Im Berlin der 1960er Jahre galt ein Anwalt, der die Strafprozessordnung für seine Mandanten in Anspruch nahm, als Querulant. Mahler war der Erste, der bestimmte Dinge in den Strafprozess einführte. Das Recht, selbstbestimmt Beweisanträge zu stellen, bestimmte Zeugen in bestimmter Reihenfolge aufzurufen. Unser Anwaltskollektiv eroberte sich die Gestaltungshoheit im Prozess. Und Mahler lieferte uns die Rezepte dafür. Wie auch immer er sich später entwickelt hat - dafür sind wir ihm bis heute dankbar.
Ströbele und Mahler sind heute sehr bekannt. Auch Otto Schily spielt in dem 2009 ins Kino gekommenen Dokumentarfilm "Die Anwälte" eine wichtige Rolle. Warum sind Sie immer so Hintergrund geblieben?
Mir fehlte der nötige Narzissmus. Es war mir wichtiger, die Basis zu bedienen. Spektakuläre Prozesse führen kann jeder. Ich kümmerte mich um Drogenabhängige, um Lehrlinge, denen gekündigt wurde. Um die, von denen heute keiner mehr als "68er" redet.
Sie sagten mal, nicht die prominenten Protagonisten hätten damals die Gesellschaft verändert, sondern Krankenschwestern und junge Anwälte. Damit meinten Sie sich selbst?
Auch. Rudi Dutschke und all diese Autoritäten wären nichts gewesen, wenn nicht zum Beispiel viele Krankenschwestern ein Bewusstsein von ihrer Stärke entwickelt hätten. Wenn nicht die Hausfrauen aufgestanden wären und gesagt hätten: Wir bestimmen jetzt mit, wie in der Familie gelebt wird. Eigene Wege zu ebnen, war wichtig. Wir haben die Schülerinnen vertreten und die Studenten, denen die Eltern den Unterhalt gestrichen haben, weil sie demonstrierten. Wir leisteten also unseren Beitrag mithilfe der Justiz.
Nun haben Sie die Rolle getauscht. Sie treten nicht mehr als Anwalt auf, sondern als Zeitzeuge: In der Ausstellung "Berlin unterm Notdach" mit Bildern Ihres Vaters erzählen Sie Besuchern von der Nachkriegszeit. Fühlt man sich da nicht furchtbar alt - so wie die letzten Holocaust-Überlebenden?
Wenn Sie so wollen, bin ich ein Holocaust-Überlebender mit Migrationshintergrund. Meine Mutter ist in Philadelphia geboren und zu Beginn der 20er Jahre mit ihrer Mutter nach Deutschland gekommen. Sie als Amerikanerin galt bei den Nazis als arisch. Mein Vater aber, dessen Familie seit Generationen in und um Berlin ansässig gewesen war, galt als Jude. Wenn die Nazis den Krieg gewonnen hätten, wären Mischkinder wie ich die Nächsten gewesen, die sie drangenommen hätten.
Ihr Bruder hat die Nazizeit auch so nicht überlebt.
1943 wurden mein neunjähriger Bruder Thomas, meine Mutter und ich evakuiert, erst nach Ostpreußen, dann ins Sudetenland. Dort bekam er eine Blinddarmentzündung. Mit dem Auto eines Fuhrwerksbesitzers wurde Thomas ins nächste Krankenhaus geschafft, meine Mutter durfte nicht mitfahren. Als sie von einem Krämerladen aus anrief, wurde ihr gesagt, dass er gestorben war. Der Arzt hatte sich geweigert, ihn zu operieren, weil er nicht rein arisch war. Ich war vier und stand neben meiner Mutter, als sie die Nachricht bekam.
Wo war Ihr Vater?
Er musste in Berlin Zwangsarbeit leisten. Wir konnten uns nur Briefe schreiben. Im Juli 1945 kehrten meine Mutter und ich nach Berlin zurück. Das geschah größtenteils zu Fuß.
Wie hat Ihr Vater das Kriegsende erlebt?
Er war in unserem Haus am Bundesplatz, damals Kaiserplatz, das im Krieg stehen geblieben war. Die Rote Armee beschoss vom Kaiserplatz aus den Zoobunker. Als die Wehrmacht zurückwich, kümmerte er sich sich nicht um die Geschosse, sondern lief auf die Straße. Und genoss die Luft. Er war plötzlich wieder ein Mensch und ein vollwertiger Staatsbürger! Jemand, der wieder überall hin durfte, wieder einen Fotoapparat haben durfte. Und plötzlich kam eine Menge Leute an, die von ihm die Versicherung haben wollten, dass sie immer anständig zu ihm gewesen waren.
Fritz Eschens Bilder sind ausgesprochen distanziert, wenn er Erwachsene fotografiert hat. Kindern hingegen ist er ganz nah. Wie erklären Sie sich das?
Das ist Ausdruck seiner Ambivalenz. Dass er gleichzeitig Sieger und Besiegter war. Er war befreit und auf Seite der Sieger. Aber diese Stadt, die zerstört war, war auch seine Heimat. Sein Berlin, das ihm vorher streitig gemacht wurde. Das war wie eine zerstörte, einseitige Liebe. Er ging nach der Befreiung mit einer einfachen Kamera durch die Stadt und fotografierte die Amerikaner. An den Schaukasten einer ehemaligen Drogerie hängte er ein Schild: "I take your picture". Die amerikanischen Soldaten kamen und ließen sich Erinnerungsfotos machen. Filme und ein Labor hatte er noch. Wir haben ihm aus der Evakuierung seine alte Rolleiflex mitgebracht, die er als Jude zuvor nicht besitzen durfte.
Haben Sie mit Ihrem Vater viel über die Kriegszeit gesprochen?
Sehr viel. Mein Vater war ein sehr politischer Mensch. Ein antiautoritärer, konservativer Preuße. Pünktlich und sorgfältig, aber unkonventionell. Seine Widerständigkeit äußerte sich zum Beispiel so: Als Jude durfte er in Wilmersdorf nicht auf der Parkbank sitzen. Wenn wir auf den Spielplatz gingen, nahm er sich einen Klappstuhl mit und setzte sich neben die Bank. Das Signal war: Ich lasse mich hier nicht von der Platte fegen. Es gab eine Reihe Mütter, die sich demonstrativ zu uns setzten. Andere zogen ihre Kinder weg. Der Spielplatz war ein politischer Ort.
Ihre Mutter Lipsy Thumm gehörte zu den Frauen, die 1943 in der Rosenstraße für die Freilassung ihrer inhaftierten jüdischen Männer demonstrierten. Wäre Ihr Vater sonst deportiert worden?
Natürlich! Während der "Fabrikaktion" im Februar 1943 wurden die in Mischehe lebenden Juden an ihren Arbeitsstellen eingesammelt und in der Rosenstraße inhaftiert. Die nicht in "privilegierter" Mischehe lebenden Juden kamen gleich in das Sammellager in der Großen Hamburger Straße. Meine Mutter gehörte zu den Frauen, die sich wehrten. Ich weiß das noch gut, weil sie uns Kinder zu Hause allein ließ, was ungewöhnlich war.
Wie war Ihre Mutter?
Sie war eine unabhängige Frau, künstlerisch begabt, gelernte Krankenschwester. Vielleicht wird sie dadurch am besten charakterisiert, dass sie meinen Vater am 6. Dezember 1933 geheiratet hat. Als man als deutsches, arisches Mädchen keinen Juden mehr heiratete - was sie vor ihrer Familie rechtfertigen musste.
Sie hatten keinen Grund, gegen Ihre Eltern zu rebellieren, oder?
Nein, ich habe es immer als enormes Privileg empfunden, solche Eltern zu haben. Wenn ich in der Schule Konflikte hatte oder ungerecht behandelt wurde, waren meine Eltern immer gleich da. Dieses Erleben von Solidarität hat mich sehr geprägt.
Ist Ihr Vater für Sie ein Vorbild?
Er war für mich der beste Fotograf der Welt und eine ausgesprochene Autorität, eine unheimlich zuverlässige Instanz. Er hat, wie ich, immer nur gemacht, was ihn interessierte. Weil er sich sagte: Das Leben ist zu kurz, um sich zu verbiegen. Deshalb ging es uns im Grunde häufig finanziell schlecht. Es gab Zeiten, wo er sich von meinem Postsparbuch 5 Mark borgte, damit er sich auf einer Versammlung seines Presseverbands Kaffee und Kuchen leisten konnte. Ich bekam das Geld immer mit Zinsen zurück.
Ihr Vater hat zwei Söhne verloren - Ihr Halbbruder aus erster Ehe wurde mit seiner Mutter im KZ ermordet. Sie wuchsen nach dem Krieg als Einzelkind auf. Was bedeutete das?
Zu seinen Lebzeiten durfte ich nie länger als drei, vier Wochen weg sein, ich durfte auch nicht Rad fahren. Er hat das sonst nicht ausgehalten. Das war seine Traumatisierung, die sich auf mein Leben ausgewirkt hat. Ich wäre gern mit einem Stipendium ins Ausland gegangen. Aber das ging nicht. In den letzten Lebensjahren meines Vaters, als meine Mutter schon tot war, habe ich mich unheimlich eingeengt gefühlte durch diese klammernde Liebe. Als er dann gestorben war, fühlte ich mich ihm wieder enorm verbunden.
Starb Ihr Vater versöhnt mit Deutschland?
Das ist eine schwierige Frage. Er hatte ja nicht nur negative Erlebnisse. Zum Beispiel hatte er einen Freund, mit dem er Briefmarken tauschte. Das war ein SS-Offizier, der ihn immer in Uniform besuchte, weil er sagte: "Zu meinen Freunden schleiche ich mich nicht in Zivil." Auch im Luftschutzkeller gab es einen SS-Mann, der sagte: "Der Eschen kommt mit zu uns, der kann doch nicht von seiner Familie getrennt sitzen." Obwohl das gegen die Vorschrift war. Es gab immer wieder Formen von solidarischem Verhalten, die es ihm unmöglich machten, die Leute pauschal abzulehnen.
Ihr Vater hat mehr als 90.000 Fotos gemacht. Der Nachlass ist im Besitz der Deutschen Fotothek in Dresden. War in Westberlin niemand interessiert?
In Deutschland gab es damals kein Interesse an Fotografien, jedenfalls nicht an journalistischen. Einer kommerziellen Agentur wollte ich den Nachlass nicht geben, die hätten sich nur die Rosinen rausgepickt und den Rest weggeworfen. 1967 lernte ich einen Lektor aus Dresden kennen, vom Verlag der Kunst. Er stellte den Kontakt zur Fotothek her - damals eine Sektion der Staatsbibliothek der DDR. Denen verkaufte ich es für einen symbolischen Preis von 15.000 Ostmark. Unter zwei Bedingungen: dass der Bestand zusammenbleibt. Und dass jeder, der von wo aus der Welt auch immer, Fotos haben will, sie bekommt. Das haben sie eingehalten.
Meinen Sie, Ihre Eltern wären stolz auf Sie gewesen?
Das frage ich mich tatsächlich oft. Für den Teil meiner Familie, der die Nazizeit in der Emigration überlebte, war ich ein schwarzes Schaf. Die haben das mit dem Sozialistischen Anwaltskollektiv überhaupt nicht begriffen. Als mein Onkel Hans gesteckt bekam, dass ich in dem Frankfurter Kaufhausbrandprozess 1968 ohne Robe auftrat und deshalb ein Verfahren kriegen sollte, schrieb er mir empört, ich solle das sofort in Ordnung bringen, das sei eine Schande! Aber ich glaube, mein Vater hätte begriffen, was ich gemacht habe. Weil er im Grunde auch ein Widerständiger, ein Außenseiter war.
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