Montagsinterview Sabine Bergmann-Pohl: "Mit mir ging es bergab"
Für Sabine Bergmann-Pohl begann vor 20 Jahren ein neues Leben: Am 18. März 1990 wurde die Ärztin, damals 43, Präsidentin des ersten frei gewählten DDR-Parlaments und damit gleichzeitig Staatsoberhaupt.
taz: Frau Bergmann-Pohl, wenn Sie die Zeit 20 Jahre zurückdrehen könnten: Würden Sie sich dann dieses Mal entscheiden, Ärztin zu bleiben, statt letzte Präsidentin der DDR-Volkskammer zu werden?
Sabine Bergmann-Pohl: Die Situation bei der letzten Volkskammerwahl war von solch einer Aufbruchsstimmung geprägt. Da hat man gar nicht überlegt, was nun beruflich irgendwann mal sein würde. Auch ich habe damals nicht darüber nachgedacht, dass ich vielleicht nie wieder als Ärztin würde arbeiten können - wie es ja dann auch passiert ist. Aber so etwas weiß man immer erst nachher. Damals hat man sich dafür entschieden, politisch einen Anteil an diesem Aufbruch zu haben.
Es gab ja durchaus Momente, in denen Sie hätten aussteigen können. Ihre politische Karriere begann ganz oben als letztes DDR-Staatsoberhaupt - das Sie ja als Volkskammerchefin automatisch waren - und ging dann nur noch nach unten, bis Sie als einfache Abgeordnete 2002 aus dem Bundestag ausschieden.
Sie haben natürlich recht, rein formal ging es mit mir immer weiter bergab: erst Ministerin ohne Geschäftsbereich, dann Staatssekretärin. Aber direkt nach der Wiedervereinigung war für mich einfach noch nicht die Zeit gekommen, wieder aus dem politischen Geschäft herauszugehen. Ich wollte auch ein bisschen die Stimme des Ostens sein. Mir war wichtig, im Bundestag gelebtes Leben im Osten transparent zu machen und zumindest einiges mitzubestimmen.
Parteifreunde, aber auch SPDler sagen über Sie: "Das ist eine engagierte Frau, aber nicht wirklich eine Politikerin." Ist das für Sie eine abwertende Einschätzung oder ein Kompliment?
Ich sehe das überhaupt nicht als abwertend. Ich bin eher Pragmatikerin gewesen, als dass ich mit politischen Scheuklappen umher gelaufen bin. In der Politik mangelt es überhaupt daran, dass man in der Lage ist, Dinge auch mal fraktionsübergreifend anzupacken.
Sabine Bergmann-Pohl, 63, wurde in Eisenach geboren und studierte Medizin. Auf den Studienplatz an der Humboldt-Uni musste sie als Arzttochter zwei Jahre warten, die sie als Praktikantin in der Gerichtsmedizin überbrückte. Sie wird Fachärztin für Lungenkrankheiten, bekommt zwei Kinder und macht Karriere als Chefin in einer Poliklinik und ab 1985 als Ärztliche Direktorin in der Bezirksstelle für Lungenkrankheiten in Ost-Berlin.
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Zur CDU kam sie 1981, um einem Eintritt in die SED zu entgehen. Nachdem die Union bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 überraschend 40,8 Prozent holte, die favorisierte SPD hingegen nur 21,9 Prozent, wurde sie Präsidentin des letzten DDR-Parlaments. In dieser Funktion verkündete sie am 23. August 1990 den Beitritt zur Bundesrepublik und damit das formale Ende der DDR.
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Kanzler Helmut Kohl machte sie nach der Wiedervereinigung kurzzeitig zur Ministerin ohne Geschäftsbereich. Von 1991 bis 1998 war sie parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium. 2002 schied sie aus dem Bundestag aus und wurde wenig später Landeschefin des Roten Kreuzes in Berlin.
Ging das besser in der Aufbruchsstimmung der Volkskammer von 1990?
Teilweise ja, weil es so viele Seiteneinsteiger wie mich gab. Aber später spielte das parteipolitische Hickhack oft eine größere Rolle als die Lösung der Probleme. Das ist etwas gewesen, was mich nachher so ungeheuer an der Politik gestört hat. Deshalb kam auch 2002, nach vier Jahren Opposition, für mich der Punkt, an dem ich dachte: Es gibt ein Leben nach der Politik. Und ich habe in den vergangenen acht Jahren so viel bewegen können beim Berliner Roten Kreuz …
… dessen Präsidentin Sie seit 2003 sind …
… und in anderen Vereinen. Das hat mir mehr gegeben, als nur Politik zu machen.
Nervt es da, wenn man doch alle fünf Jahre als Ex-Volkskammerchefin quasi aus dem Schrank geholt wird, um zunehmend weiter zurückzublicken?
Ich finde das schon problematisch. Ich habe mir eigentlich geschworen: Nach dem 20. Jahrestag äußerst du dich dazu nicht mehr.
Da hat die taz ja gerade noch mal Glück gehabt.
Nun ja, es ist ja andererseits auch nicht so, dass ich mit meiner Vergangenheit gebrochen hätte. Ich werde sehr oft angefordert, politische Vorträge über das Zusammenwachsen der Deutschen zu halten. Das mache ich sehr gerne, weil ich doch betroffen bin, wie weit die Menschen in Ost und West noch auseinander sind. Ich versuche dabei auch ein bisschen über das Leben in der DDR aufzuklären und deutlich zu machen, dass dort nicht alles schwarz oder weiß war, dass man auch Achtung haben muss vor den Lebensbrüchen der Ostler.
Ihr Parteifreund Mario Czaja, Abgeordneter aus Hellersdorf, propagiert diesen Weg seit Jahren und fordert eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Linkspartei. Im Westen stößt das bei vielen CDUlern auf Ablehnung. Die Linkspartei ist da weiter nur die SED-Nachfolgepartei, die es zu bekämpfen und madig zu machen gilt.
Natürlich steckt in der Linkspartei ein großes Stück SED drin. Sie hat auch deshalb einen so großen Erfolg, weil sie nicht nur teilweise unerfüllbare Versprechungen abgibt, sondern auch diese nostalgische Erinnerung pflegt, wie die DDR doch ihre Bürger behütet hat.
Das ist doch nicht nur Nostalgie. Sie selbst waren doch die, die als Staatssekretärin den Beamten im Bonner Gesundheitsministerium erstmal erklären musste, dass die DDR-Polikliniken nichts mit Polypen zu tun hatten, sondern eine erhaltenswerte Struktur waren.
In diesem Fall hat das mit Nostalgie nichts zu tun. Ich betrachte die ehemalige DDR schon sehr kritisch, als Unrechtsstaat, in dem die Menschen bis in die Familien hinein bespitzelt wurden und nicht frei wählen durften. Ich sage aber eben auch: Es war nicht alles schlecht. Es gab durchaus Strukturen, die man sich nach der Wiedervereinigung sehr wohl mal hätte anschauen und bewahren sollen.
Als da wären?
Die Polikliniken sind ein Stichwort, ein anderes sind Programme für chronisch kranke Menschen. Was man heute viele Jahre nach der Einheit als "Disease managment"-Programme macht ist im Grunde nichts anderes ist als unsere Chronikerprogramme in der DDR. Aber 1990 wollte man davon nichts hören. Genau das gleiche gilt für die medizinischen Versorgungszentren.
"Das Gemeinschaftsgefühl könnte etwas stärker ausgeprägt sein und das Interesse füreinander auch", haben Sie vor ein paar Jahren gesagt. Ist das für Sie immer noch so?
Das ist nach wie vor meine Bestandsaufnahme. Wenn ich in den alten Bundesländern oder wie erst neulich noch im westlichen Teil Berlins über die Probleme von Ostdeutschen rede, dann wird mir schon mal vorgeworfen: "Wir haben ja auch nach der Wiedervereinigung …
"… bluten müssen?"
So schlimm kommt das dann doch nicht. Aber sie klagen beispielsweise darüber, dass der Berlin-Zuschlag weggefallen ist - und vergessen völlig, dass der Berlin-Zuschlag eine Art Aushaltegeld war, damit man in West-Berlin blieb. Man war hier ja genauso eingemauert wie wir in der DDR.
Na ja, der große Unterschied war aber doch, dass die West-Berliner reisen konnten.
Aber nicht einfach ins Umland. Ich finde es schon makaber, wenn sich Westler so beklagen, obwohl jetzt auch für sie alle Wege frei sind. Die Wiedervereinigung ist doch auch ein Gewinn für die Westdeutschen gewesen. Bei solchen Vorträgen in den alten Ländern kommt es mir oft so vor, als ob wir nur die Nehmenden sind.
Irgendwann erzählt bei solchen Diskussionen doch bestimmt immer einer die Mär vom Solidaritätszuschlag.
Genau, dass der Soli nur im Westen bezahlt würde. Da muss man wirklich noch viel aufräumen. Allerdings ärgert mich auch etwas in den neuen Ländern: Da will man Freiheit und Demokratie, aber unter dem Schutzmantel des DDR-Lebens, wo der Staat alles für einen regelt - das geht natürlich nicht. Demokratie und freie Wahlen, wie wir sie im Osten erstmals am 18. März 1990 hatten, heißt auch, dass ich für mich selber verantwortlich bin.
Was werden Ihre stärksten Erinnerungen sein, wenn sich am Donnerstag dieser Tag der ersten und letzten freien Volkskammerwahl erneut jährt?
Drei Dinge haben sich mir für die Monate bis hin zur Einheit besonders eingeprägt. Zum ersten, das mein Privatleben komplett auf den Kopf gestellt wurde - um den Haushalt und unsere beiden Kinder musste sich nun mein Mann kümmern. Zum zweiten wurde ich plötzlich von morgens bis abends bewacht.
War das denn nötig?
Ja, sicher. Man hatte ja nicht nur Freunde, wenn man plötzlich Staatsoberhaupt und Volkskammerpräsidentin ist. Die Staatssicherheit war noch organisiert, es gab auch Morddrohungen, Schmähbriefe sowieso. So sehr hat mich das aber nicht beeindruckt.
Durfte es ja auch nicht.
Stimmt, denn sonst kann man gar nicht damit leben. Drittens war da die ständige Angst, dieser riesigen politischen Herausforderung nicht gewachsen zu sein, etwas falsch zu machen. Das war ein ständiges learning bei doing.
In dem halben Jahr zwischen Volkskammerwahl und Einheit gab es ja ewig viele Gesetze …
... 164 waren es …
… und dazu noch 93 Beschlüsse. Von Lothar de Maizière heißt es, er habe das Land damals mit Kaffee und Zigaretten regiert und sei zwischen Wahl und Wiedervereinigung von 65 auf 52 Kilo abgemagert. Ich will jetzt nicht nach Ihren Kilos fragen - aber wie erging es Ihnen?
In der Nacht der Wiedervereinigung, vom 2. auf den 3. Oktober, da war ich körperlich am Ende. Da hatte ich das Gefühl der völligen Leere in mir und habe für mich festgestellt, dass ich meine Ämter nicht lange hätte weiter machen können, ohne gesundheitlichen Schaden zu erleiden. Aber in der Zeit zuvor war man wie ein perpetuum mobile, das immer weiter vorangetrieben wurde - man musste da durch.
Eine, für die dieser Stress dann Alltag wurde, ist Angela Merkel. Von Ihnen beiden heißt es, konnte nur eine Ministerin nach der ersten gesamtdeutschen Wahl werden - und das war Merkel. Waren Sie sauer?
Ne, ich war überhaupt nicht sauer. Das Frauenministerium wollte ich nicht, ich wollte in einen Bereich, von dem ich inhaltliche Ahnung hatte. Insofern war ich gar nicht unfroh, als parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium zu landen. Ich muss Ihnen auch ganz offen sagen: Angela hat eine unglaubliche Kraft und ein Durchhaltevermögen, das ich wahrscheinlich nie hätte aufbringen können. Ich habe mir viel mehr Gedanken gemacht, wenn man negativ in der Presse stand. Ich hatte nicht ihr dickes Fell.
Die CDU war ja für Sie ein Kompromiss. Als sie als Ärztin in Ost-Berlin Karriere machten, kam irgendwann der Moment, in dem Ihnen ein Eintritt in die SED nahegelegt wurde. Statt zu sagen: "Nicht mit mir …"
… bin ich den leichteren Weg gegangen, in die CDU, stimmt.
"Blockflöte" nannte man die Leute, die in Blockparteien wie die CDU gingen, die über die Nationale Front mit der SED liiert waren, auch wenn das nach der Wende mancher nicht mehr wissen wollte.
Dies Bezeichnung stört mich gar nicht. Ich war ja sehr jung, als ich Leiterin einer Poliklinik wurde. Es nervte mich, dass die SED mich werben wollte, und es wäre ein ziemlich harter Kampf gewesen, mich dessen zu erwehren. Klar wollte ich parteilos bleiben. Aber ich habe mich gefragt: "Willst Du Dich sinnlos verkämpfen oder nicht lieber den Weg des geringeren Widerstandes gehen und hast dann den Kopf frei für deine Tätigkeit in der Poliklinik?"
"Ich hatte nie den Mut, mich gegen den Staat aufzulehnen", haben Sie mal gesagt.
Wissen Sie, wichtig ist das Ziel. Und das erreicht man nicht, wenn man versucht, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Ich habe beispielsweise als Chefin der Poliklinik unglaublich gerne gearbeitet und einen sehr guten Kontakt zu den Patienten gehabt. Sollte ich nun alles aufs Spiel setzen, bloß um der SED die Stirn zu bieten und sagen zu können, was für ein großer Kämpfer ich bin? Mein Beitrag lag mehr im Kleinen.
Wo genau?
Ich habe Patienten illegal geholfen, sich mit meinen Rezepten in West-Berlin Medikamente zu besorgen, die es in der DDR nicht gab. Das hätte mich einmal fast den Job gekostet, weil ein Patient erwischt worden ist. Ich bekam dann glücklicherweise nur eine Abmahnung, habe aber trotzdem damit weiter gemacht. Ich habe auch den engen Kontakt zu meiner West-Verwandtschaft nie abgebrochen, obwohl die SED das verlangt hat.
Dazu passt, dass Sie als Staatsoberhaupt erst gar nicht in Honeckers altes Büro einziehen wollten. Irgendwann sind Sie doch rein, aber zumindest an seinem Schreibtisch wollten Sie nicht sitzen. Immer auf der Suche nach dem Mittelweg jenseits der Extreme - würden Sie das selbst als Wesenszug sehen?
Ja, das ist schon so. Was den Schreibtisch angeht: Der war tabu. Schon allein, weil darauf Schreibutensilien von Ceaucescu standen. Ich saß immer an einem runden Tisch in der Mitte des Raumes.
Was geht in Ihnen vor, wenn Sie heute am Schlossplatz vorbei gehen, an einer grünen Wiese? Fehlt Ihnen was? Zumindest vielen Wessis ist ja gar nicht klar, dass mit dem Palast der Republik auch der Sitzungssaal der Volkskammer abgerissen wurde, wo Sie den Beitrittsbeschluss verkündet haben.
Ich war gegen den Abriss und habe das auch nie verhehlt.
Egon Bahr etwa hatte dafür plädiert, wenigstens den Volkskammersaal zu erhalten.
Ich hätte mir einen Umbau vorstellen können oder eine andere Gestaltung, aber der Palast als geschichtlicher Ort und Keimstätte der Wiedervereinigung hätte bleiben müssen - dort ist der Beitrittsbeschluss gefasst worden. Mit dem Palast ist ein Stück DDR-Identität verschwunden. Aber ich war mit meiner Meinung recht einsam. Deswegen ist es schon so: Am Schlossplatz fehlt mir tatsächlich etwas.
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