Moldaus Premierin über Ukraine-Krieg: „Ernsthafte Herausforderungen“
Regierungschefin Natalia Gavrilita fordert vom Westen finanzielle Unterstützung, um Flüchtlingen aus der Ukraine noch besser helfen zu können.
taz: Frau Gavrilita, Moldau ist als kleines Nachbarland der Ukraine vom Krieg besonders betroffen. Wie geht es Ihrem Land?
Natalia Gavrilita: Seit Beginn des Krieges sind etwa eine Viertelmillion Menschen aus der Ukraine nach Moldawien gekommen. Die Republik Moldau hat nur 2,6 Millionen Einwohner. Der Zustrom von Flüchtlingen hat die ohnehin schon großen Herausforderungen noch vergrößert: Pandemie, Energiekrise, zweistellige Inflation und ein schwaches institutionelles Umfeld, das durch jahrelange politische Instabilität verursacht wurde. Aber ich bin stolz auf die außerordentliche Mobilisierung der moldauischen Gesellschaft nach Kriegsbeginn – Tausende von Freiwilligen haben den aus der Ukraine kommenden Menschen jede erdenkliche Hilfe angeboten.
Jahrgang 1977, ist seit August 2021 Regierungschefin der Republik Moldau ist. Sie ist ausgebildete Ökonomin.
Der Hafen von Odessa, das wichtigste Tor zur Republik Moldau, ist nicht funktionsfähig, so dass das Land keine Produkte über die traditionellen Routen einführen kann. Was heißt das für Sie?
Die anhaltende russische Invasion in der Ukraine stellt unsere Lieferketten vor ernsthafte logistische Herausforderungen, und wir müssen bestimmte Waren möglicherweise aus anderen Ländern beziehen als vor dem Krieg. Deshalb ist es wichtig, dass die Europäische Union uns bei der Einfuhr von Produkten aus anderen Ländern unterstützt und dafür europäische Häfen wie den Hafen von Constanta nutzt. Es ist auch wichtig, unseren Produzenten zu helfen, mehr in die EU zu exportieren und die Liste der Produkte, die gemäß dem Assoziationsabkommen exportiert werden können, wesentlich zu erweitern.
Sollte die EU sonst noch etwas tun?
Um ganz offen zu sein: Wir brauchen eine sehr flexible und umfassende direkte finanzielle Unterstützung, insbesondere in Form von Zuschüssen und Budgethilfe. Natürlich sind wir verpflichtet, jede Hilfe nach den höchsten Transparenzstandards zu verwenden. Wir haben von der EU und den Mitgliedstaaten – wie auch von den Vereinigten Staaten – nachdrückliche Botschaften der Unterstützung erhalten. Wir sprechen auch mit dem IWF, der EU und anderen Partnern über den weitergehenden Finanzierungsbedarf zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Krieges in der Ukraine.
Gibt es etwas, was Sie speziell von der deutschen Regierung erwarten?
Es wäre eine große Hilfe, wenn weitere EU-Mitgliedsstaaten bereit wären, Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen, die sich derzeit in Moldau befinden. Diese Umverteilung würde uns eine gewisse Atempause verschaffen und es uns ermöglichen, uns gut um die in Moldau verbliebenen Flüchtlinge zu kümmern.
Auch die Separatisten in Transnistrien erneut ihre Unabhängigkeit erklärt. War das Strategie?
Die Region Transnistrien strebt seit 30 Jahren nach Unabhängigkeit, und solche Erklärungen wurden bereits früher abgegeben, als die Republik Moldau verschiedenen europäischen Gremien beitrat oder auf ihrem europäischen Weg voran kam. Die Mehrheit der moldauischen Bevölkerung will die EU-Integration vorantreiben. Unser Ziel ist es, dass die Republik Moldau ein vollwertiges EU-Mitglied wird, auch mit der Region Transnistrien, und so Wohlstand und den Schutz der Freiheiten und Rechte aller Bürger gewährleistet.
Der Krieg in der Ukraine k ö nnte die Lage in Transnistrien eskalieren lassen. Sehen Sie eine Chance, das Problem langfristig zu l ö sen?
Bisher ist die Lage in der Region Transnistrien stabil, und wir alle hoffen, dass dies auch so bleiben wird. Unsere Position bleibt unverändert: Jede Lösung muss unsere territoriale Integrität in vollem Umfang respektieren. Und natürlich sind wir weiterhin bereit, konkrete Schritte zu erörtern, um das Vertrauen zwischen den beiden Ufern des Dnjestr zu stärken.
W ürde sich die Situation verschlimmern, wenn Russland Odessa angreift?
Ich hoffe aufrichtig, dass ein solches Szenario nicht eintritt. Da Odessa in unmittelbarer Nähe zu unserer Grenze liegt, müssten wir wahrscheinlich mit einem stärkeren Zustrom von Schutzsuchenden rechnen, was unsere ohnehin schon überlasteten Kapazitäten weiter belasten würde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt