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Mobilität auf dem thüringischen Land Mit dem Moped ins Grab brettern

Kommentar von Mika Schlegel

Jugendliche sollten schon ab 16 unbegleitet Auto fahren dürfen. Denn die Alternativen sind noch gefährlicher.

Weißig bei Gera, im Juni. Das Öffi-System wird dort vorläufig nicht weiter ausgebaut Foto: Jacob Queißner

W er im Osten auf dem Land aufwächst, der kommt dort grundsätzlich schlecht weg. Denn die Busse fahren nur stündlich, und das auch nur werktags zwischen sechs und neun und eins und vier. Ein Fahrrad ist keine Alternative, denn dank der Berge und Serpentinen fühlt sich jede Radtour an wie die Tour de France. Wie also als Teenager am gesellschaftlichen Leben teilnehmen? Wie zur Party oder zum Spieleabend kommen? Der Weg dorthin ist für Jugendliche oft gefährlich bis tödlich. Das liegt auch daran, dass Autofahren erst ab 18 erlaubt ist.

Mit 16 sind bereits viele mit der Schule fertig und müssen weit fahren, um zur Arbeit oder Ausbildung zu kommen. Öffis bekommt man dann auch nicht mehr subventioniert. Gängige Argumente gegen Autofahren ab 16 lauten, dass junge Menschen zu unerfahren und zu übermütig seien. Die Sorgen sind berechtigt, denn laut Zahlen des Statistischen Bundesamts hat die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen das höchste Unfallrisiko im Straßenverkehr.

Doch das Problem ist: Die Alternativen sehen noch schlechter aus. Denn viele Jugendliche auf dem Land kaufen sich mit 15 Jahren stattdessen schon Motorräder oder Mopeds. Diese sind um einiges tödlicher. In den Serpentinen der Thüringer Wälder und Berge legt man sich ständig in die Kurve, rutscht schneller raus und ist dann auch noch schlechter geschützt als im Pkw. Das Risiko, durch einen Verkehrsunfall zu sterben, liegt laut dem Statistischen Bundesamt bei Kraftradfahrern bei 10 Getöteten je 100.000 Krafträdern, auf 100.000 Pkw kommen hingegen 2 Getötete.

Ampelkoalition versprach begleitetes Autofahren ab 16

Ostjugend-Dossiers

Der Text ist aus einem zu den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Rahmen eines Online-Workshops der taz Panter Stiftung entstandenen Ostjugend-Dossier, das durch Spenden finanziert wird: taz.de/spenden

Die Problematik hat auch die Bundesregierung erkannt und 2021 in ihrem Koalitionsvertrag versprochen, dass Jugendliche schon mit 16 begleitet Autofahren können sollen. Dieses Jahr im April scheiterte das geplante Modellvorhaben im Europaparlament. „Da der Rahmen für das Führerscheinrecht auf europäischer Ebene für alle Mitgliedstaaten verbindlich geregelt ist, kann Deutschland eine Absenkung des Mindestalters nicht einseitig auf nationaler Ebene regeln“, teilte das Verkehrsministerium mit. Fahren ab 16 müsste also EU-weit erlaubt werden – und hierfür geht der Vorschlag der Bundesregierung noch nicht weit genug.

Sich nicht frei bewegen zu können, kann für Jugendliche belastend sein

Das Problem ist das „begleitete Fahren“. Autofahren darf man in Deutschland seit 2008 theoretisch schon ab 17, solange eine Begleitperson danebensitzt. Laut dem ADAC nutzen derzeit aber nur die Hälfte der Fahranfangenden die Möglichkeit zum begleiteten Fahren, und dann nur selten den vollen Zeitraum.

Das könnte daran liegen, dass es ganz schön schwierig ist, eine Begleitperson zu finden. Diese muss nämlich erstens rechtliche Voraussetzungen erfüllen, zum Beispiel mindestens 30 Jahre alt sein und maximal einen Punkt in Flensburg haben. Und dann muss die Person auch noch im richtigen Moment Zeit haben. Herrscht dann auch noch ein angespanntes Verhältnis zu den Begleitenden, wird überhaupt nicht begleitet gefahren. Dann doch lieber die Simson. Die nachhaltigste und sicherste Lösung für das Unfallproblem wären wohl mehr öffentliche Verkehrsmittel. Doch weder Bund noch Länder können diese kurzfristig ausbauen. Verhandlungen zwischen Kommunen und Verkehrsbetrieben sind bürokratisch und gewinnorientiert, außerdem fehlen oftmals schlicht und einfach Geld, Infrastruktur und Personal.

Jugendlichen auf dem Land steht die gleiche Mobilität zu wie denen in der Stadt. Sich nicht frei bewegen zu können, kann insbesondere für junge Menschen nicht nur unpraktisch, sondern auch mental belastend sein. Statt sie zu unterstützen, lässt die Bundesregierung sie auf dem Dorf im Stich. Was es braucht, ist mehr Landkindpolitik – sowohl auf Bundesebene als auch EU-weit.

Mika (19) ist als Dorfkind im nordthüringischen Kyffhäuserkreis aufgewachsen. In Leipzig wird Mika bei der Produktion von lokalen Radiobeiträgen immer noch von der Ausbilderin angewiesen, Hochdeutsch zu sprechen.

FOTO: Jacob Queißner (24) ist im ostthüringischen Gera geboren und aufgewachsen. Nach einem Volontariat und Fernstudium zum Fachjournalisten für historischen Motorsport, ist er während der Corona-Pandemie in seine Heimatstadt Gera zurückgekehrt, um hier als Journalist und Fotograf aktiv zu sein.

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