Wermuss in den Krieg?

Zwei Jahre nach dem Großangriff Russlands sind viele ukrainische Sol­da­t:in­nen erschöpft und brauchen eine Pause. Unterwegs in einem Land, das sich gegenseitig mustert

Mann in Uniform

Yurii Nod ist nicht in der Armee, aber bereitet sich mit einem Schießtraining in Lwiw auf einen möglichen Einsatz vor

Aus Kyjiw, Lwiw und Slowjansk Daniel Schulz
(Text) und Khrystyna Lizohub (Fotos)

Bevor Yurii Nod weiterschießen darf, macht sich sein Trainer erst einmal über ihn lustig. „Du bist alt und langsam“, sagt der, als sich Nod hinkniet und sein Gewehr anlegt, um zu zielen, den Kolben an der rechten Wange. „Du brauchst mehr Stretching.“ Yurii Nod grinst und zielt nochmal, dieses Mal den Kolben links neben seinem Gesicht. Er steht auf und rennt: einmal vom wellblechüberdachten Unterstand bis zur Tonne in der Mitte des schneeverkrusteten Übungsplatzes und wieder zurück. Dann schießt er. Kurz und scharf wie der Knall einer Peitsche hallt der Schuss über das Feld. Die ausgeworfene Patronenhülse klimpert gegen das Dach des Schützenstands und hoppelt ein paarmal über Beton.

46 Jahre ist Yurii Nod alt. Er müsste überhaupt nicht hier sein, in der feuchten Kälte der ersten Februartage, die jedes unbedeckte Fleckchen Haut findet, die Finger und Zehen nach Minuten durchfrostet; hier auf diesem privaten Trainingsgelände in der Nähe von Lwiw, einer Großstadt im Westen der Ukraine. Yurii Nod hat vier Kinder, davon drei jünger als 18 Jahre, er müsste deshalb nicht in die Armee, für die es im Osten an der Front seit einiger Zeit nicht gut läuft. Kyjiws Gegenoffensive im Sommer und Herbst 2023 brachte hohe Verluste, aber keine signifikanten Geländegewinne. Die westlichen Verbündeten liefern nicht genug Munition. Die Kriegsführung hat sich wieder einmal verändert, beide Armeen setzen Kamikazedrohnen ein, aber Russland hat mehr davon, Artillerie sowieso.

Am 8. Februar wechselte Präsident Wolodymyr Selenskyj den in der Bevölkerung beliebten Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj durch einen unpopulären General aus. Nur wenige Tage später zog sich die ukrainische Armee aus der seit knapp zehn Jahren gehaltenen Frontstadt Awdijiwka zurück – eine herbe Niederlage. Und trotzdem sagt Yurii Nod, er wolle an die Front. „Ich kann mir auch vorstellen, in einer Spezialeinheit zu arbeiten“, sagt er nach dem Schießtraining beim Essen in seiner Lwiwer Lieblingspizzeria, „in einer Einheit, die auf von Russland besetztem Gebiet kämpft.“

Nod spricht in dieser Pizzeria auch darüber, was die meisten Menschen in der Ukraine zwei Jahre nach Russlands Angriff beschäftigt. Er glaubt nicht, dass der Kampf mit dem großen Nachbar bald endet. Er sagt: „In zwei Jahren werden wir immer noch Krieg haben. Mal sehen, wie der aussieht, vielleicht wird es ein Stellungskrieg wie vor 2022.“ Von einem Sieg ist er trotzdem überzeugt. Er sagt: „Es sind harte Zeiten, aber keine dunklen Zeiten.“

Mit dem Bewusstsein, dass der Krieg wahrscheinlich noch lange dauert, geht auch die Erkenntnis einher, dass dieser Krieg nicht allein mit den Sol­da­t:in­nen zu gewinnen ist, die sich nach der Invasion im Februar 2022 freiwillig gemeldet haben. Die Ukrai­ne­r:in­nen reden darüber in den Straßen, in Tram und Metro, in Kneipen, auf Facebook und Telegram. Im Dezember 2023 hat Präsident Selenskyj gesagt, das Militär brauche 500.000 neue Soldat:innen. Das betrifft vor allem die Männer. Frauen können freiwillig zur Armee gehen. Die Regierung in Kyjiw hält die Zahlen der toten ukrainischen Kämp­fe­r:in­nen geheim, die New York Times schrieb im vergangenen Sommer unter Berufung auf US-Regierungsbeamt:innen von etwa 70.000 Toten und bis zu 120.000 Verwundeten.

Im Dezember hat die ukrainische Regierung den Entwurf für ein Gesetz ins Parlament eingebracht, das neu festlegen soll, wer unter welchen Umständen zur Armee gehen muss und wer das Militär wann wieder verlassen darf. Die erste Version wurde von den Abgeordneten unter anderem wegen potenzieller Menschenrechtsverletzungen gleich wieder kassiert. Der Entwurf enthielt empfindliche Strafen gegen Männer, die sich dem Militärdienst entziehen, darunter den Ausschluss von staatlichen Leistungen und Beschränkungen, über das eigene Vermögen zu verfügen. Ein geänderter Entwurf passierte trotz einiger fortbestehender Bedenken Anfang Februar in erster Lesung das Parlament.

Die Mobilisierung neuer Sol­da­t:in­nen ist ein Verliererthema. Ukrainische Po­li­ti­ke­r:in­nen wissen, dass sie sich damit nicht beliebt machen können. Ein Teil ihrer potenziellen Wäh­ler:in­nen hat Angst, sie selbst, ihre Männer, ihre Verwandten müssten bald an die Front gehen. Andere kämpfen seit zwei Jahren oder länger und wollen nach Hause. Die Zahl 500.000 wollte Präsident Selenskyj selbst gar nicht gesagt haben und schob die Verantwortung dafür dem Militär zu. Der damalige Oberbefehlshaber Saluschnyj wies das von sich, es folgte ein öffentlicher Schlagabtausch aus dem Umfeld der beiden; vielleicht einer der Gründe für ­Saluschnyjs spätere Demission.

An einem frühen Nachmittag im Februar umläuft Serhii Hnesdilov, 23 Jahre alt und Kommandeur einer Drohneneinheit, Pfützen auf einer schlammigen Nebenstraße am Rande von ­Slowjansk. Es ist dieselbe Woche, in der Yurii Nod trainiert, aber hier über Slowjansk weit im Osten strahlt der Himmel blau. Knapp 1.200 Kilometer, fast ein ganzes Land, liegen zwischen den beiden Männern. Yurii Nod schießt auf Zielscheiben aus Pappe, Serhii Hnesdilov sagt, er wäre am Tag davor beinahe getötet worden. Grad-Raketen seien in seiner Nähe eingeschlagen. „Ich konnte gerade noch so in einen Graben springen“, sagt Hnesdilov. Dabei zieht er die Mundwinkel leicht nach oben, das macht er ziemlich oft, in Deutschland würde man ihn in manchen Gegenden eine Grinsebacke nennen. Serhii Hnesdilov hat verboten, ihn an der Front zu besuchen, das sei zu gefährlich. „Wir kommen nicht bei Tageslicht an die Front, wir können uns nur in der Dämmerung bewegen. Drohnen beobachten alles, und wenn sich tagsüber etwas rührt, kommt eine Drohne und zerstört das.“

Slowjansk liegt je nach Messung 30 bis 40 Kilometer hinter der Front. Hierher kommen ukrainische Soldat:innen, um einzukaufen, sich mit Freun­d:in­nen und Geliebten zu treffen. Hnesdilov will sich die Haare schneiden lassen. Ein Mann öffnet ein braunes Tor in einem ebenso braunen Zaun, er lotst Hnesdilov vorbei an Gartengeräten in sein Einfamilienhaus, im Flur hängt ein rot und braun bemaltes Papierskelett, Puzzles mit Weihnachtslandschaften kleben an nackten Wänden. ­Serhii Hnesdilov setzt sich auf einen Friseurstuhl in einem Raum, der mal ein Wohnzimmer war. Das sagt jedenfalls der Mann, der jetzt Schere und Rasierer in der Hand hat. Hnesdilov sagt, es gebe zu wenige Friseure in der Stadt, und der Besitzer dieses Hauses habe deswegen ein Geschäft aufgemacht.

Während ihm die Haare geschnitten werden und bei einem Restaurantbesuch erzählt Hnesdilov von seinem Zorn. „Ich bin wütend, weil die Regierung noch immer keine transparenten Gesetzen erlassen hat, Gesetze, die für alle gelten.“ So, wie er es sieht, ruhen sich zu viele Menschen in der Ukraine darauf aus, dass Männer wie er das Land verteidigen und dabei sterben. Er sagt, viele Ukrai­ne­r:in­nen würden so tun, als kämpften nur professionelle Soldat:innen, Menschen, deren Beruf das Töten und Sterben sei. „Aber die meisten von uns sind Zivilpersonen, die sich nur deshalb freiwillig gemeldet haben, weil Russland uns keinen anderen Ausweg lässt, als zu kämpfen.“ Hnesdilov hat sich 2019 vertraglich zum Militärdienst verpflichtet, vorher hat er Journalismus studiert und ein Kunstfestival in der Gegend von Odessa organisiert. Da kommt er ursprünglich her. Er sagt: „Ich möchte ausgewechselt werden, ich gehöre hier so wenig hin wie alle anderen, ich bin müde.“

Die Frage der Fairness, die nach einer irgendwie gerechten Verteilung der Schrecken des Krieges in der Ukraine, stellen nicht nur Sol­da­t:in­nen wie Serhii Hnesdilov. Eine kleine, aber gut organisierte Bewegung von Frauen demonstriert dafür, dass ihre Männer, Brüder, Söhne möglichst bald die Armee verlassen dürfen. Am 28. Januar und am 11. Februar versammeln sich jeweils mehr als 100 Frauen auf dem zentralen Platz in Kyjiw, dem Maidan, sie rufen: „Helden sind keine Sklaven!“, und: „Das ganze Land ist für den Sieg verantwortlich!“ Es ist ihre sechste und siebte Demonstration, sie protestieren seit dem Herbst.

Organisiert hat diese Versammlung zusammen mit ein paar anderen Frauen Anastasiia Bulba, 37, im Gebiet des heutigen Russlands geboren, auf der ukrainischen Krim aufgewachsen. Sie wohnt in einem Dorf nahe der Hauptstadt, 25 Minuten braucht sie mit der Marschrutka dorthin, einem Sammeltaxi. Sie hat mal Forst- und Parkwirtschaft studiert, dann mit ihrem Mann eine Manufaktur für Matratzen aufgemacht. Er ist Soldat in einer Logistikeinheit, und Anastasiia Bulba wartet jeden Morgen bis 11 Uhr auf die Bestätigung im Signal-Messenger, dass er ihre Nachrichten gelesen hat. Wenn nicht, ruft sie die Frauen seiner Kameraden an, so haben sie es vereinbart.

„Die ukrainische Regierung und die Gesellschaft haben aus unseren Männern Helden gemacht, die angeblich unzerstörbar sind“

Anastasiia Bulba, ihr Mann ist Soldat

Bulba sagt, und das sagen andere Frauen auf dem Maidan auch, sie demonstriere nicht gegen den Krieg. Sie halten die Verteidigung gegen Russland für alternativlos. Das Nachbarland habe angegriffen und könne den Krieg nur selbst beenden. „Aber die ukrainische Regierung und die Gesellschaft haben aus unseren Männern Helden gemacht, die angeblich unzerstörbar sind“, sagt Anastasiia Bulba. Das Zu-Helden-Erklären sei eine Form der Entmenschlichung. „Unsere Männer werden krank, sie werden verletzt, sie sterben.“ Viele dieser Männer haben sich gleich nach der Invasion zum Militär gemeldet und hatten seitdem kaum einmal Zeit, sich zu erholen. Sie müssten endlich durch andere ersetzt werden, fordert Bulba. „Jeder wird in der Armee dienen“, rufen die Frauen, als sie vom Maidan aus den Chreschtschatyk hinunterlaufen, die große mehrspurige Straße im Kyjiwer Stadtzentrum. Manche, denen sie dabei begegnen, schauen freundlich, andere erschrocken, insbesondere Männer.

Fragt man Frauen aus dem Demonstrationszug, wie sie die Männer sehen, die in Kyjiw und anderen Städten einkaufen oder ins Fitnessstudio gehen, dann schimpfen einige, es fallen Beleidigungen wie „Ziegenböcke“ und „Feiglinge“. „Negativ“, ist Anastasiia Bulbas knappe Antwort auf die Frage, wie sie gesunde Männer sieht, die nicht zum Militär gehen. Aus Bulbas Sicht nehmen sie ihre Verantwortung nicht wahr und lassen andere für ihre Sicherheit und ihren Komfort sterben. Auch Serhii Hnesdilov, der Drohnenkommandant, sagt in Slowjansk, er verstehe zwar die Furcht der Männer, an die Front zu gehen. „Aber ich kann diejenigen, die dieser Furcht nachgeben und sich verstecken, nicht respektieren.“ Hnesdilov sagt auch, dass er allen Männern nach dem Krieg immer mit der Frage begegnen werde, wo sie während der Kämpfe waren. Viele Sol­da­t:in­nen sehen das wie er und schreiben das ins Internet. Man kann allerdings auch genügend Zi­vi­lis­t:in­nen treffen, die so reden.

Wie viele Männer sich in der Ukraine vor dem Militärdienst verstecken, lässt sich nicht seriös nachprüfen. Die Ämter, die für die Musterung und Einberufung verantwortlich sind, gelten als rabiat und korrupt. Ihre Rekrutierer sind an Checkpoints unterwegs, vor Einkaufszentren und in U-Bahnhöfen. Wer Geld hat, kann versuchen, sich freizukaufen, andere bekommen ihren Einberufungsbescheid ausgehändigt und haben dann manchmal nur Stunden oder Tage Zeit, bis sie sich bei ihrer Einheit melden sollen. Im Internet kursieren Videos von Männern, die andere Männer in Vans zerren oder gewaltsam fortschleppen. Das sollen Rekrutierer sein, die besonders brachial vorgehen. Die Behörden versprechen, in diesen Fällen zu ermitteln. Sehr groß ist das Vertrauen in diese Zusagen nicht. In einem Dorf in der West­ukraine hat eine aufgebrachte Menge eine Frau und ihr Kind brutal angegriffen. Die Angreifer:innen, darunter viele Frauen, hielten die Attackierte für eine Beschäftigte der Einberufungsbehörden.

In Telegram-Kanälen wie „Wetter in Kyjiw“ warnen sich Menschen vor den Rekrutierern, der Kanal hat knapp 65.000 Abonnenten. „Es regnet am Eingang zu den Rusaniw-Gärten“, schreibt jemand am Nachmittag des 17. Februar. Männer sollen sich dort also besser nicht blicken lassen. Wenn keine Rekrutierer zu sehen sind, liest sich das so: „Chotiw, Tschabany, Novosilky klar und ohne Niederschlag.“ Auch wegen des schlechten Rufs der Behörden rekrutieren bekannte Militäreinheiten mit eigenen Veranstaltungen inzwischen landesweit selbst.

Mehr als 650.000 ukrainische Männer im Alter von 18 bis 64 Jahren sind laut der Statistikbehörde der EU in West- und Mitteleuropa als Flüchtlinge registriert. Einer von denen, die die Ukraine inzwischen verlassen haben, ist Roman. Das ist nicht sein richtiger Name, aber den möchte er auch nicht in der Öffentlichkeit sehen. Er sagt, er fürchte die öffentliche Stimmung in der Ukraine, es gebe Hetze gegen Leute wie ihn.

Eine Frau im roten Anorak protestiert auf dem Maidan

Anastasiia Bulba auf einer Demonstration auf dem Maidan in Kyjiw

Wir sprechen wenige Tage vor seinem Grenzübertritt per Videoanruf miteinander. Ich kenne seinen richtigen Namen, seine Accounts in verschiedenen sozialen Medien. Roman ist 25 Jahre alt, seine Stimme klingt jungenhaft, aber fest; er sagt gerne, dass er dieses oder jenes genau analysiert habe, bevor er entscheide. Seine Familie besitzt Geld, Roman hat für das ukrainische Fernsehen gearbeitet, er hätte auch die Chance gehabt, in Istanbul zum Piloten ausgebildet zu werden. Eigentlich dürfen Männer zwischen 18 und 60 Jahren die Ukraine seit Februar 2022 nicht verlassen, aber es gibt ein paar legale und jede Menge illegale Wege. Roman sagt, er habe 7.000 Dollar für ein medizinisches Dokument bezahlt, das ihm eine Krankheit attestieren wird, mit der er dienstuntauglich ist. Welche das sei, wisse er noch nicht. Außerdem müsse er zu einer genau festgelegten Zeit an einem genau festgelegten Grenzübergang sein. Er habe ein Arrangement mit Leuten von der Grenzkontrolle. Die Po­li­zis­t:in­nen einer bestimmten Schicht würden ihm keine Schwierigkeiten machen.

Roman sagt, er habe gar nicht so viel Angst davor, an die Front zu müssen, „davor wäre ich wahrscheinlich durch mein gekauftes Dokument geschützt. Ich fürchte vielmehr den sozialen Krieg, nachdem der Krieg mit Russland zu Ende ist.“ Er glaubt, dass die Männer, die als Soldaten gekämpft haben, sich als eine neue Elite verstehen und nach politischer Macht greifen würden, wenn das Kämpfen vorbei sei. In so einer Zukunft sehe er für sich keinen Platz. Zurückkehren möchte er irgendwann trotzdem, weil „ich mir nur Kyjiw als meine Heimatstadt vorstellen kann“. Roman denkt, mit Russland lasse sich ein Deal aushandeln, ein Miteinander, in dem Angehörige der ukrainischen Elite wie er von Vergeltung und Gewalt verschont würden. Roman sagt: „Wir haben vor dem Maidan Geschäfte mit Russland gemacht, warum sollte das in Zukunft nicht wieder möglich sein?“

Auf die Frage, ob er die Drohung der Moskauer Regierung, die Ukrai­ne müsse entukrainisiert werden, und ob er die Massaker an Zi­vi­lis­t:in­nen in ­Butscha und anderen Städten nicht ernst nehme, antwortet Roman: Doch, das tue er. Seine Familie besitze ein Haus bei Butscha und habe selbst den Beschuss der russischen Artillerie gehört. Er sei ein Patriot. Aber man müsse eben auch die spezielle Situation der Soldaten aus Russland sehen, die geglaubt hätten, in der Ukraine freudig empfangen zu werden. „Natürlich wurden die wütend, als sie angegriffen wurden.“

Wenige Tage nach unserem Gespräch überquert Roman die Grenze tatsächlich. Wir schreiben uns, nachdem er in Polen angekommen ist. Seine Freundin und er fahren einen langen Umweg durch Rumänien, sie posten im Internet Bilder und Videos davon.

Dieser Krieg ist nicht allein mit den Sol­da­t:in­nen zu gewinnen, die sich freiwillig gemeldet haben

Es ist nicht allein das Geld, das Roman so anders auf die Ukraine blicken lässt. Auch Yurii Nod, der Mann, der in Lwiw trainiert, hat viel Geld. In seiner Werkstatt tunen, reparieren und putzen seine 17 Angestellten auf einem Besuch nach dem Schießtraining einige teure Autos. Allein Nods Ausrüstung, das Gewehr, die Schutzweste, das medizinische Equipment, hat 11.000 bis 14.000 Euro gekostet. Für zwei Trainingsstunden bezahlt er dem kriegsverletzten Veteranen, der ihn unterrichtet, umgerechnet 72 Euro, für jede verschossene Patrone 72 Cent.

Die Revolution auf dem Maidan, Russlands andauernde Aggression und die vielen Toten fordern Ukrai­ne­r:in­nen fortwährend existenzielle Auseinandersetzungen damit ab, welcher Gemeinschaft sie sich zugehörig fühlen, was sie verteidigen wollen und wie viel sie bereit sind, dafür zu opfern. Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus, Geld ist nur ein Faktor, selbst erlebte politische Kämpfe und familiäre Erfahrungen sind andere.

Laut einer Anfang der vorletzten Februarwoche veröffentlichten Umfrage hat sich die Zahl der Ukrainer:innen, die nicht an einen Sieg ihrer Armee glauben, im Vergleich zum Sommer 2023 zwar von 3 auf 15 Prozent erhöht. Aber 85 Prozent sind immer noch überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Alle ernst zu nehmenden Umfragen von Herbst 2023 bis Februar dieses Jahres attestieren gegenüber der Armee und dem Präsidenten hohe Vertrauenswerte. Nicht einmal Roman, der bald weiter nach England oder in die USA ziehen möchte, glaubt daran, Russland könnte die gesamte Ukraine besetzen. Und auch bei „Wetter in Kyjiw“, dem Telegram-Kanal, der vor Rekrutierern warnt, sammeln sie regelmäßig Geld für die Armee.

Ein Mann zu Besuch in einem improvisierten Friseursalon

Serhii Hnesdilov, Kommandeur, beim Friseurbesuch in einem improvisierten Salon in Slowjansk

In längeren Gesprächen mit knapp 20 anderen als den hier im Text zitierten Menschen – darunter ein gelernter Kfz-Mechaniker, der in den Wäldern um Kyjiw schießen übt, und eine Armeesanitäterin, die vor dem Interview warnt, sie sei so traumatisiert, dass sie anfangen könnte zu weinen – entsteht der Eindruck, die meisten Ukrai­ne­r:in­nen wollten gegen Russland kämpfen, solange das Land weiterhin angreift. Viele Männer melden sich nicht freiwillig bei der Armee. Aber sie gehen auch nicht weg, verstecken sich nicht. Sie sagen, irgendwann würden auch sie kämpfen müssen und sie würden sich dem trotz ihrer Angst stellen.

Vor der Infanterie fürchten sich viele, jener Truppengattung, die so gut wie jede Armee am meisten braucht und in der es oft die höchsten Verluste gibt. Deshalb versuchen einige Männer sich zu spezialisieren, zum Beispiel das Drohnenfliegen zu lernen, um dort eingesetzt zu werden, wo es vielleicht nicht ganz so gefährlich ist. Die andere Angst ist, von einem unfähigen Offizier befehligt zu werden, der durch Vetternwirtschaft an seinen Posten gekommen ist.

Das große Vertrauen in die aktiven Kämp­fe­r:in­nen der Armee koexistiert in der Ukraine mit dem krassen ­Misstrauen in oft als „sowjetisch“ bezeichnete Strukturen in ebendieser Armee. Yurii Nod, der Mann, der in Lwiw trainiert, überlegt deswegen, gleich selbst Offizier zu werden, wofür er noch jahrelang lernen müsste. Er sagt: „Ich habe Managementfähigkeiten, ich lasse mich nicht von einem Trottel verheizen, dafür bin ich mir zu viel wert.“

Am Ende seines Trainings auf dem februarkalten Platz in Lwiw gibt Nod seinem Trainer noch ein zweites Mal die Gelegenheit, sich über ihn lustig zu machen. Yurii Nod legt sich mit seinem Gewehr auf den Boden, um im Liegen zu schießen. „Ich sehe nichts“, sagt er. „Mein Zielfernrohr ist beschlagen.“ – „Keine Angst, Yurii“, sagt der Trainer und lacht. „Der Feind wartet natürlich auf dich.“