Mobbing im Jugendsport: Träume dürfen ruhig platzen
Dürfen Nachwuchstalente nicht sensibel sein? Der Trainingsbetrieb ist nur auf die Hartgesottenen ausgerichtet. Anderen bleibt das Aufhören.
I n meiner allerersten Olympia-Kolumne habe ich darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, wenn Leo 2032 an den Olympischen Sommerspielen als Schwimmer teilnähme. Er wäre dann 21. Aber daraus wird nun nichts. Leo schwimmt nicht mehr. Wir haben ihn beim TSC Berlin abgemeldet. Er wollte einfach nicht mehr hin. Ich habe das relativ spät begriffen, ihm immer wieder gesagt, Schwimmen sei doch so ein schöner Sport, ganz toll für den Körperbau, und Verletzungen hat man auch fast nie. Gedacht habe ich an die vielen dicken Knöchel, die ich mir beim Basketball geholt habe.
Leo hat nach meinen Impulsvorträgen über die Segnungen des olympischen Schwimmens immer betreten zu Boden geschaut. Dabei hätte ich etwas ahnen können, als er immer wieder seine Badehose „vergaß“ und schuldbewusst und viel zu früh wieder zu Hause klingelte. Es war anfangs nicht aus ihm herauszubekommen, warum er nicht mehr in die Schwimmhalle wollte. Was war da los? Er druckste herum. „Ich hab halt keine richtige Lust mehr“, sagte er, und je mehr ich insistierte, desto mehr machte er zu. „Ist blöd dort.“
Es kam dann irgendwann heraus, dass Leo nicht an diffuser Unlust oder notorischer Bequemlichkeit litt, sondern von ein paar kleinen Fieslingen im Schwimmklub geschnitten wurde. Das hatte folgenden Grund: Eines schönen Tages kamen die Frauen im Haushalt auf die Idee, sich die Finger- und Fußnägel rot zu lackieren. Sie pinselten eifrig, und Leo wollte nicht abseits stehen. Er ließ sich einen großen Onkel rot anmalen. Er fand das witzig, hatte aber offensichtlich nicht bedacht, dass ein roter Fußnagel in der Jungs-Schwimmgruppe des TSC wie ein Stigma wirkt. Mit so einem stimmt doch etwas nicht? Ist das eine Memme? Ein Muttersöhnchen? In der Umkleide war wohl einiges los. Leo musste sich von gerade mal 9- und 10-Jährigen als „Leonie“ bezeichnen lassen.
Alle denken in Klischees, Jugendliche und Trainer
Nun könnte man sagen, in genderfluiden Zeiten sei das nicht so schlimm, allein der Zustand von Leo sagte etwas anderes. Er war tief getroffen, und ich versuchte, dem Schwimmlehrer den Fall zu erläutern. Ich schrieb: Uns sei schon klar, dass es unter Jungs auch mal ruppig und verletzend zugehe, aber wir möchten ihn, den Coach, doch bitten, zumindest am Becken ein Auge darauf zu haben, dass Leo wegen dieser Spielerei nicht aufgezogen wird.
Der Trainer antwortete eigentlich ganz patent: „Ich gehe davon aus, dass die Jungen der Trainingsgruppe genauso wie ich in Klischees denken. Mädchen malen sich Finger- und Zehnägel an, bei Jungen ist das nicht so verbreitet. Und das äußern sie auch“, schrieb er. Auf den konkreten Fall wollte er in der Gruppe nicht eingehen, aber an Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl appellieren. Was er dann auch tat. Das Problem: Seine Ansprache fruchtete nicht. Ich sprach dann mit Leos neuer Trainerin über das Mobbing in der Umkleide. Sie sagte sinngemäß: Ach, na ja, sie sei früher immer für einen Jungen gehalten worden, und trotzdem sei aus ihr eine gute Schwimmerin geworden. Ich fragte mich, ob etwa nur die Hartgesottenen durchkommen, die Toughen und Lederhäutigen?
Ob die Sensibelchen schon früh aussortiert werden in einem Sportsystem, das wie beim TSC Berlin schon sehr früh auf Leistung und Auslese setzt. Beginnen die olympischen Härten schon mit 10? Ich denke schon. Entweder die Kinder sind für den Leistungssport gemacht – oder die Eltern schieben sie in diese Richtung. Ich habe Leo ja vermutlich auch zu sehr bedrängt. Er ist viel zu verträumt, als dass er sich schon als Zweit- oder Drittklässler in einem Klima wiederfinden muss, das ich nur zu gut aus meiner Zeit im DDR-Trainingszentrum kenne. Er sitzt jetzt wieder stundenlang vor seinen Lego-Sets. Sein Olympia ist gestorben. Und das ist ganz gut so.
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