Mittelmeer als Flüchtlingsroute: Mit Diktatoren dealen
Unwürdig: Die EU schließt mit armen Ländern Abkommen, um sich Flüchtlinge und Jobsuchende vom Hals zu halten.
Die Armee des Königreiches von Mohammed VI. räumt immer wieder die Wälder rund um Ceuta und Melilla und setzte die Menschen irgendwo mitten in der Wüste an der Grenze zu Algerien aus. Verbesserte Grenzanlagen und Razzien zeigten Wirkung. Die Menschen aus Afrika suchten neue Wege und fanden sie. Ab Sommer 2006 waren die Kanarischen Inseln das Ziel. Ein neues Wort zog in die spanische Sprache ein: Es heißt Cayuco und bezeichnet die typisch westafrikanischen, offenen Holzboote, die normalerweise zum Fischen benutzt werden und 90 bis 170 Menschen Platz bieten.
Zuerst legten sie in Südmarokko und von den Stränden der besetzten, ehemaligen spanischen Kolonie Westsahara ab. Madrid setzte die Regierung in Rabat einmal mehr unter Druck. Auch dieses Mal mit Erfolg. König Mohammed VI. ließ die Strände besser bewachen. Neue Routen wurden eröffnet.
Zuerst ging die Reise über Mauretanien. Doch auch hier erreichte die spanische Diplomatie, dass die Regierung gemeinsame Küstenpatrouillen einrichtete. Spanien entsandte ein Boot und einen Helikopter und stellte der Polizei des westafrikanischen Landes im Rahmen der Entwicklungshilfe zwei ausgediente Schiffe zur Verfügung. Die Flüchtlinge versuchen fortan ihr Glück im Senegal.
Aus anfänglich 90 Kilometer Überfahrt wurden so innerhalb weniger Monate über 2.500 Kilometer. Längst verläuft Europas Grenzen quer durch Afrika. „Es wurde Druck auf die Länder im Maghreb und südlich der Sahara ausgeübt, um sie in die Bekämpfung der illegalen Migration einzubinden“, schrieb Amnesty International. Allen voran sei Mauretanien in die Rolle des „Polizisten Europas“ geschlüpft. Selbst elementarste Menschenrechte blieben dabei auf der Strecke.
Die Länder Nordafrikas wurden zur Hilfstruppe der EU-Grenzschützer. Dazu unterzeichnete die EU im Rahmen so genannter „privilegierter Partnerschaften“ mit Marokko und Tunesien Abkommen, die offiziell den Austausch zwischen den Ländern und Europa erleichtern sollen. Im Gegenzug zu dieser Visaerleichterung für Tunesier und Marokkaner verpflichteten sich die beiden Länder bei der Abwehr der illegalen Immigration zu kooperieren. Mobilitätspartnerschaft heißt dies.
„Mehr Öl, weniger Flüchtlinge“
taz und Deutschlandradio Kultur widmen dem Mittelmeer, Sehnsuchtsort und Massengrab zugleich einen gemeinsamen Thementag. Der Sender befasst sich 24 Stunden lang mit dem Mittelmeer zwischen Urlaubsidylle und Flüchtlingstragödie. In Gesprächen, Reportagen, Features und mit Radiokunst geht es um den Sehnsuchtsort der Europäer, der gleichzeitig zum Massengrab für MigrantInnen geworden ist. Die taz mit vier Sonderseiten zum selben Thema. Der Themenschwerpunkt Mittelmeer – am Montag, 13. Juli 2015 in der taz und auf Deutschlandradio Kultur (Frequenz ist standortabhängig) und im Digitalradio.
Auch Libyen war bis vor Kurzem wichtiger Bestandteil des Systems zur Abwehr von Flüchtlingen. Es war Italiens Präsident Silvio Berlusconi, dem die Vorteile einer Türstehertruppe im Reich des einstigen Diktators Gaddafi als Erstem in den Sinn kamen. Um das Jahr 2003 herum ging er dazu auf den damals beim Westen in Ungnade gefallenen Herrscher Muammar al-Gaddafi zu. „Mehr Öl, weniger Flüchtlinge“, auf diese Formel brachte Rom den Zweck seiner neuen Allianz – und ließ sich diese einiges Kosten: Berlusconi verpflichtete sich, nach und nach insgesamt sagenhafte 3,4 Milliarden Euro „Entschädigung“ an Gaddafi zu zahlen – angeblich als Wiedergutmachung für Verbrechen aus der Kolonialzeit zwischen 1911 und 1943.
Dafür machte Gaddafi seine Grenzen dicht, führte den Straftatbestand der „illegalen Ausreise“ ein, baute Gefängnisse für Papierlose und schob diese unter grausamen Bedingungen in die Wüste ab.
Wenige Jahre später stieg, zunächst etwas verstohlen, auch die EU in die bis dahin nur bilaterale Kooperation ein: Eine Delegation der EU-Grenzschutzagentur Frontex besuchte 2007 Libyen und fuhr mit einer Wunschliste des Diktators nach Hause. Europa lieferte Kommandostände, Überwachungsradars, Nachtsichtgeräte, Fingerabdruck- und Bilderkennungssysteme, satellitengestützte Kommunikation, Navigationsgeräte, Lastwagen (“für die Entfernung von Wüsteneindringlingen“) und mehr.
„Auch Odysseus wollte wie die Flüchtlinge heute aus dem Krieg nach Europa, nur um zu überleben. Beide sind sie auf ihre Weise Kriegsflüchtlinge“, sagt der Literaturwissenschaftler Raoul Schrott. Das komplette Interview können Sie hier hören.
2009 nahm die EU mit dem Diktator offiziell Verhandlungen über ein sogenanntes Nachbarschaftsabkommen auf. Auch hier galt letztlich die Formel „Mehr Öl, weniger Flüchtlinge“. Dass Gaddafi das UN-Flüchtlingswerk UNHCR aus dem Land warf, hielt die damalige EU-Außenkommissarin Catherine Ashton nicht davon ab, das Abkommen, bei dem der libysche Herrscher weitere 50 Millionen Euro für die Grenzsicherung bekommen hätte, abschließen zu wollen. Der Arabische Frühling 2011 verhinderte das.
Die EU zeigte sich jedoch flexibel. Noch während Gaddafi im Amt war, verhandelte sie mit den Rebellen in Bengasi – über Militärhilfe, aber auch über Migrationskontrolle. Nach dem Sturz Gaddafis hielten sie Wort. „Vorher hat nur Gaddafi gewonnen, wenn es Abkommen mit dem Westen gab“, sagte der Libyer Miftah Saeid, der in Bengasi gegen Gaddafi gekämpft hat. „Was wir wollen, ist eine Win-win-Situation – für ganz Libyen und für den Westen.“
Die Zuwanderung aus Afrika nach Europa aber ist nie endgültig versiegt. Das derweil letzte Kapitel wird an Europas Südgrenze etwas weiter östlich, zwischen Tunesien und Italien beziehungsweise Libyen und Italien geschrieben. Und auch hier endet die Reise ins vermeintliche Eldorado für so manchen in einer Tragödie.
Mauerbau an den Grenzen
Nach dem Sturz des tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali verschwand fast überall im Land die Polizei aus dem Straßenbild. Mauern zum Grenzschutz sind wieder aktuell. Tunesien will nach dem terroristischen Überfall auf ein Strandhotel in Sousse noch in diesem Jahr eine 168 Kilometer lange Mauer quer durch die Wüste errichten. Ein Drittel der Grenze zu Libyen soll damit undurchlässiger gemacht werden.
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In Marokko wird ebenfalls gebaut. Dort soll eine 124 Kilometer lange Mauer den nördlichen Teil der Grenze mit Algerien sichern. Sie soll die Route unterbrechen, die viele Flüchtlinge nehmen, um zu den beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla zu gelangen. Eine weitere Mauer auf dem Weg nach Europa wird den Flüchtlingsstrom nicht stoppen, aber die Zahl der Toten und Verletzten erhöhen, befürchten Bürgerrechtler.
Selbst wer nach Ceuta und Melilla gelangt und dort den bis zu 7 Meter hohen Grenzzaun überwindet, ist zwar in Europa angekommen, wird aber dennoch meist gewaltsam von der spanischen Polizei durch Türen im Zaun zurück nach Marokko verfrachtet, wo er von der Gendarmerie nicht gerade freundlich empfangen wird. Diese Praxis der sogenannten „heißen Ausweisung“ ist nach internationalem Recht illegal und so stand es bisher auch im spanischen Gesetz. Nachdem die Proteste gegen diese Praxis immer lauter wurden, hat die konservative Regierung Rajoy diese Maßnahmen zum 1. Juli legalisiert.
Die EU koordiniert seit Herbst 2013 den Schutz der Südgrenze mit der Operation „Eurosur“. Dafür stehen bis 2020 mindestens 244 Millionen Euro bereit. Das Meer wird mit Booten der Frontex, mit Satelliten und Drohnen überwacht, um Flüchtlingsboote rechtzeitig zu erkennen und zurückzuschicken.
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