Mit der Sea-Watch im Mittelmeer (4): „Verschwindet aus meinen Gewässern“
An Bord der Sea-Watch 5 überschlagen sich die Ereignisse. Unser Autor wird Zeuge zweier Rettungsaktionen und eines Schusses der libyschen Küstenwache.

W as die letzten zwei Tage passiert ist, wirkt bereits wie in weiter Ferne. Ich schaue mir meine Videoaufnahmen an und es kommt mir vor, als wäre ich nicht dabei gewesen. Zwei Rettungen in etwa zwölf Stunden. Erleichterung in den Augen der Menschen. Und ein Schiff der libyschen Küstenwache, dass einen Schuss abgibt.
Am 22. September hat die Sea-Watch 5 ihren 15. Einsatz im Mittelmeer vom süditalienischen Taranto aus gestartet. Eine knappe Woche später und 124 Menschen mehr an Bord hält sie nun Kurs auf den sicheren Hafen in Neapel.
Um etwa drei Uhr am Freitagmorgen wache ich vom Läuten der Alarmglocken auf: „Close contact rescue, this is not a drill“ – übersetzt „Nahkontaktrettung, dies ist keine Übung“ – heißt es über das Funkgerät. Der Fotograf, mit dem ich die Kajüte teile, und ich springen hastig aus unseren Betten, reißen die Rettungswesten von den Haken, ziehen unsere Helme auf.
Etwa 40 Seemeilen vor der libyschen Küste werden 66 Menschen aus einem Fiberglasboot gerettet, die meisten von ihnen kommen aus Bangladesch. Die Fahrer, mutmaßlich Libyer, fahren das Boot wieder zurück Richtung Süden. Warum sie das tun, lässt sich schwer sagen. Klar ist, dass irgendwo jemand ein gutes Geschäft mit der Not der Menschen macht.
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Seawatch Bordtagebuch 4

„Verschwindet aus meinen Gewässern“
Während der Rettung meldet sich ein Schiff über Funk: „Sea-Watch 5, Sea-Watch 5, Libyan Coast Guard, get out of my waters now!“ – übersetzt „Sea-Watch 5, Sea-Watch 5, libysche Küstenwache, verschwindet sofort aus meinen Gewässern!“ – eine sinnlose Forderung, das libysche Hoheitsgebiet beginnt erst zwölf Seemeilen vor der Küste. Die Sea-Watch 5 befindet sich in internationalen Gewässern.
Zehn Jahre ist der Summer of Migration her, in dessen Verlauf hunderttausende Geflüchtete nach Deutschland kamen. Die taz widmet dem Thema einen Schwerpunkt – und schickt einen Redakteur auf das Seenotrettungsschiff Seawatch 5. In dieser Online-Kolumne und auf den Social-Media-Kanälen der taz berichtet Fabian Schroer vom Rettungseinsatz auf dem Mittelmeer. Alle seine Berichte und Videos finden Sie hier im Bordtagebuch.
Die Brücke weist alle an, unter Deck zu gehen. Im Begriff zu gehen sehe ich das graue Stahlboot der Küstenwache durch die schwarze Nacht. Seine blendenden Scheinwerfer werfen Licht auf die Gesichter der Geretteten auf dem Achterdeck.
Wenige Stunden später werden alle über den Schuss sprechen, den Bootsmann Dan Bebawi und andere Crewmitglieder gehört haben. Die taz wird ein Statement veröffentlichen, in dem sie die Aggression verurteilt. In einem Artikel der US-Zeitung Politico, die seit 2021 dem deutschen Axel-Springer-Verlag gehört, wird von „verschärften Spannungen in der EU“ die Rede sein.
Die libysche Küstenwache wird von der Europäischen Union unterstützt; sie soll Migration auf dem Mittelmeer verhindern. Erst im August beschoss sie das Rettungsschiff Ocean Viking und beschädigte es.
Nach Malta hätten sie es vermutlich nicht geschafft
An Bord scheint der Schuss derweil fast vergessen. Am Nachmittag, nachdem Italien der Sea-Watch 5 Neapel als sicheren Hafen zugewiesen hat, kommt es zu einer weiteren Rettung.
Die Gruppe ist schlechter dran als die erste. Die meisten in dem überfüllten Schlauchboot kommen aus Sudan. Seit drei Tagen sind sie unterwegs, ihr Benzin ist beinahe aufgebraucht, Wasser läuft ihnen zwischen die Füße. Bis nach Malta hätten sie es vermutlich nicht mehr geschafft – geschweige denn nach Lampedusa, zu ihrem eigentlichen Ziel.
Dass die Sea-Watch 5 an dem Boot vorbeikommt, ist ein Glücksfall. Anfang 2023 wurde in Italien das sogenannte Piantedosi-Dekret verabschiedet. Seitdem müssen Rettungsschiffe, wenn sie Menschen an Bord geholt haben, unverzüglich einen zugewiesenen Hafen ansteuern. Nur wenn sie auf dem Weg an weiteren Notfällen vorbeikommen, dürfen sie denen auch nachgehen.
Am Ende sind alle 124 Geretteten wohlauf. In graue Decken gehüllt sitzen sie auf dem Achterdeck, trinken Tee und kauen auf trockenen BP5-Riegeln, einer Notnahrung. Später werden mir einige von ihnen von den unterschiedlichen Preisen erzählen, die sie für die Überfahrt gezahlt haben, abhängig von Nationalität und Sicherheit des Bootes. Davon, wie man ihnen ihre Telefone abnahm, und dass es furchtbar war in Libyen.
In der Crew hoffen viele auf Konsequenzen nach dem Vorfall mit der libyschen Küstenwache. Daran zu glauben scheinen wenige. Ein Crewmitglied erzählt mir, sie ärgere es, dass es nur dann Aufmerksamkeit gebe, wenn die Aggression gegen Europäer gehe. Für die Schusswunden, die sie immer wieder bei Menschen sehe, die Sea-Watch seit vielen Jahren aus dem Meer zieht, interessiere sich hingegen kaum jemand.
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