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Missbrauchsskandel Odenwaldschule"Verstörend und unheimlich"

Die Stimmung in der hessischen Odenwaldschule ist aufgewühlt. Doch die Lehrer trauen der Leiterin zu, den sexuellen Missbrauch an Schülern radikal aufzuklären.

Die Odenwaldschule - Idyll im Schnee? Bild: reuters

BERLIN taz | An der Odenwaldschule in Oberhambach gehen viele Anrufe von ehemaligen Schülern ein, die sich zu den sexuellen Missbrauchsfällen in den 70er- und 80er-Jahren äußern. "Es ist verstörend und unheimlich, was man da zu hören bekommt", sagte die Leiterin der Schule, Margarita Kaufmann der taz. Drei Lehrer sind dazu abgestellt, die Anrufe entgegenzunehmen und die Betroffenen dann an eine Anwältin weiterzuleiten, die mit der Aufklärung betraut wurde. Die Stimmung in der Schule sei aufgewühlt, aber die Lehrkräfte stehen hinter dem Kurs der Schulleiterin, die radikale Aufklärung versprochen hat. Das erfuhr die taz auch aus Lehrerkreisen: "Die macht das gut." Gleichzeitig hat die Staatsanwaltschaft Darmstadt ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

An der Odenwaldschule, einer der renommiertesten reformpädagogischen Einrichtungen, war ein Missbrauchsskandal aus den 70er- und 80er-Jahren erneut aufgeflammt. Ein ehemaliger Schüler, der vom damaligen Leiter der Schule, Gerold Becker, missbraucht worden war, hatte darauf gedrängt, den Fall zur 100-Jahr-Feier der Schule im April wiederaufzurollen. Becker, der heute schwerkrank in Berlin lebt, war bereits 1999 wegen der sexuellen Annäherungen aller seiner Ämter enthoben worden. Nun haben sich aber neue Opfer gemeldet, es sollen 24 Fälle sein, die noch nicht geklärt sind.

Nach Berichten ehemaliger Schüler und Lehrer sei es klar gewesen, dass Becker sich Schülern näherte. Jetzt geht es darum, herauszufinden, ob es ein "System Becker" gab. Nach Berichten von Lehrern hieß es, der Charakter der Odenwaldschule sei heute ein ganz anderer. Wie sich herausstellte, sind die Sicherungsmaßnahmen wie etwa der 1999 eingerichtete "Ausschuss gegen sexualisierte Gewalt", dem Lehrer und Schüler angehören, in der Tat besser als an anderen Internatsschulen.

Die Liste der Eingeladenen und die Arbeitsweise des runden Tisches zum Missbrauch sind indes noch unklar. Ein Sprecher von Familienministerin Kristina Schröder (CDU) sagte, es seien erst 24 Stunden seit der Ankündigung vergangen, so schnell könne man nicht reagieren. Das Familienministerium hat in der Sache die Federführung übernommen. Offenbar ist Schröder Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger mit ihrem runden Tisch zuvorgekommen. Die FDP-Ministerin plädiert für einen runden Tisch, um Opfern jahrzehntelang zurückliegender Missbrauchsfälle in katholischen Schulen Entschädigungen zu ermöglichen.

In der Internatsszene wurde der runde Tisch begrüßt. Erika Risse von den Deutschen Landerziehungsheimen, dem größten Verbund von Internaten, dem auch die Odenwaldschule angehört, sagte der taz, es sei richtig, ein solches Gremium einzurichten. Dort solle über pädagogische Perspektiven nach dem Missbrauch gesprochen werden - auch über die Fälle von Klassenfahrten und Internaten hinaus. "Wir nehmen an so einem runden Tisch teil, wenn das gewünscht ist", sagte Risse.

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6 Kommentare

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  • R
    rhenanus

    es ist schon interessant, daß das Interview von Hentig mit der SZ schon am gleichen Tag aus der online-version verschwand (SZ-Redakteur Prantl war Mitglied der Humanistischen Union) und in der deutschen Presse von links bis rechts ignoriert wird. Das "Denkmal" gibt nämlich darin den Odenwälder Schülern die Schuld an den Vorfällen.

  • B
    Bernhard

    "Sexuelle Annäherungen"??? Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass ihr einen solchen Ausdruck verwendet! Der Mensch hat sich nicht bloß angenähert, er hat krassen Missbrauch mit von ihm Abhängigen getrieben. Wenn ihr euch aus rechtlichen Gründen nicht traut, die Sache beim Namen zu nennen, solltet ihr zumindest auf derart verharmlosende Formulierungen verzichten.

  • H
    Humanist

    Pikant:

    Frau Leutheusser-Schnarrenberger fordert den „Runden Tisch“ nur für die Katholische Kirche. Weshalb dies so ist, wird klarer, wenn man folgenden Hintergrund zum Missbrauch in der privaten Odenwaldschule kennt:

     

    "Dem Vordenker der Reformpädagogik und Lebensgefährten von Ex-Schulleiter ( der Odenwaldschule) Becker, Hartmut von Hentig, warfen die Betroffenen zumindest Mitwisserschaft vor. Im Gespräch mit der FR nannte von Hentig den Vorwurf "grotesk"." (frankfurter Rundschau 6.3.2010)

     

    Herr von Hentwig ist - wie Frau Leutheusser-Schnarrenberger - Mitglied des Beirates der Humanistischen Union.

     

    Wenn sie nur über die katholische Kirche zu Gericht sitzen möchte, ist sie nicht in der Verlegenheit, auch noch unangenehme Fragen an ihren HU-Beiratskollegen stellen zu müssen. Clever die Frau Leutheusser-Schnarrenberger! Aber auch schnell durchschaubar!

  • M
    Maze

    Das scheint leider üblich zu sein in solchen geschlossenen Biotopen. Ich habe auch öfter über sexuelle Belästigung an Schülern in Internaten gehört, die von der Leitung vertuscht werden, weil die Eltern ihre Kinder sonst dort wegnehmen würden. Siehe etwa hier

    http://www.freitag.de/community/blogs/thomschmidtke/integration-light--innenansichten-einer-blindeneinrichtung

  • HV
    Herr von Neubabelsberg

    Gegen sexuelle manipulation und verletzung von kindern und minderjährigen würden sicher eine kombination aus flächendeckenden gewalt- und suchtberatungsstellen, männerhäusern, therapiezentren, aber ebenso die konsequente anwendung und gegebenenfalls verlängerung und verschärfung der verjährungsfristen und strafrahmen hilfreich sein.

     

    Aufgrund des fortschreitenden personalabbaus und der budgetkürzungen sowohl im sozialwesen als auch im justizwesen, was meines erachtens insbesondere SPD und CDU landauf, landab zu verantworten haben, sieht die gesamtgesellschaftliche situation derzeit so katastrophal aus wie sie sich darstellt, so dass man Schweden einfach nur um die besseren sozialen institutionen beneiden kann!

     

    Erschwerend kommt hinzu, dass kaiserreich und nazibarbarei der deutschen gesellschaft das unrechtsbewußtsein gehörig und nachhaltig ausgetrieben haben, was offenbar wird, wenn bei mittlerer bis schwerer vorsätzlicher körperverletzung bewährungssträfchen ausgesprochen und 18jährige fahrerlaubnisscheininhaber mit jugendstrafen infantilisiert, hingegen sachbeschädigung und diebstahl mit mehreren jahren knast geahndet werden.

     

    Es herrscht einfach eine art von toleranz gegenüber gewalttätigem verhalten in der BRD vor, die ich so in keinem zweiten europäischen nachbarland wahrgenommen habe. Man verzeiht und vergibt sich hierzulande zu schnell, so dass auch die aufklärung in vielen fällen sträflich vernachlässigt wird und leidet. Diesbezüglich gebe ich politikern, justizangestellten und medienvertretern gleichermaßen eine mitschuld.

     

    Es sollten nicht zuletzt aus diesem grunde mehr öffentlich-rechtliche UNTERSUCHUNGSAUSSCHÜSSE eingesetzt werden, sei es beim fall Odenwaldschule oder Canisius-Kolleg.

     

    In England gibt es übrigens ein gesetz namens Indeterminate Sentence for Public Protection (IPP), dass bei mittlerer bis schwerer vorsätzlicher körperverletzung eine längere gefängnisstrafe vorsieht, verknüpft mit der auflage, dass der oder die gewalttäter erst wieder auf freien fuß gesetzt werden, wenn er oder sie bereit sind, sich einer antigewalt-therapie zu unterziehen. Außerdem hat man sich mit dem Antisocial Behaviour Act dort schon seit längerem der problematik gestellt. Alkohol wird in Great Britain zwar genauso exzessiv konsumiert wie in deutschen landen, es wird dort allerdings nicht als entschuldigung für körperverletzung akzeptiert.

    Das problem in UK sind allerdings fehlende gelder für mehr therapeutInnenstellen und sozialarbeiterInnen. Ich bin gespannt, wie sich die Labour Party im anstehenden wahlkampf dazu verhält.

     

    Denjenigen, die die wirksamkeit von grundgesetzlich verankerten, SÄKULAREN antigewaltsanktionen bezweifeln, sei übrigens die frage gestellt, wie würde es in der gesellschaft zugehen, wenn gänzlich darauf verzichtet würde? Ein hauen und stechen etwa, ein gegenseitiges würgen und vergewaltigen, oder ist die menschheit generell bereits bis ins bein und mark hinein zum pazifismus bekehrt, wie es sich mancher bischof und manche bischöfin gerne wünschte???

  • D
    dieLINKE

    Man sollte Missbrauch und körperliche Züchtigung stark trennen .