Missbrauchsdebatte in Frankreich: Opfer reden dank #MeTooInceste

Zahlreiche Menschen teilen unter dem Hashtag ihre Erfahrungen mit Übergriffen aus der Familie. Die Politik steht unter Druck.

Duhamel und die anderen, ihr werdet niemals in Frieden sein – #MeTooInceste Foto: Francois Mori/ap

Eine hoffentlich heilsame Debatte: Nach Enthüllungen der Juristin Camille Kouchner über eine mutmaßliche Vergewaltigung ist in Frankreich eine Diskussion über sexualisierte Gewalt in Familien entbrannt. Unter dem Hashtag #MeTooInceste hat das feministische Kollektiv „Nous Toutes“ auf Twitter eine seit Langem geplante Kampagne gestartet. Das Echo ist ebenso gewaltig in der Zahl der Beiträge wie schockierend im Inhalt. Nach bloß drei Tagen wurden fast 80.000 Tweets aufgeführt.

Dem vorausgegangen war die Veröffentlichung von Camille Kouchners Buchs „La Familia grande“. Sie wirft darin ihrem Stiefvater sexuelle Übergriffe auf ihren damals 13 oder 14 Jahre alten Zwillingsbruder vor – das schlug auch so hohe Wellen, weil es sich bei diesem Stiefvater um den in Frankreich sehr bekannten Politologen Olivier Duhamel handelt.

Die kurzen Texte der heute Erwachsenen beginnen oft ähnlich: „Ich war 6, dann 7, 8 und zuletzt 9 Jahre alt, als mein Bruder mich vergewaltigte. Bis heute versuche ich, mich mit dem Kind zu versöhnen, das ich damals war und das ich oft aufgegeben zu haben glaubte.“ Das schreibt auf Twitter Laurent Boyet, der auch sein Foto dazu publiziert. Er hat selber vor drei Jahren ein Buch zum Thema veröffentlicht, ohne allerdings eine vergleichbare Wirkung zu erzielen. Die Umweltpolitikerin Loubna Meliane enthüllt jetzt schonungslos: „Ich war 9, und nie werde ich das Gefühl der Scham, der Schuld und der Verletzbarkeit vergessen. Er heißt Khalid Meliane. Er war mein Vater, er hat mich bis zu meinem 17. Lebensjahr vergewaltigt.“

Die Schriftstellerin Christine Angot – selber ein Inzestopfer – wollte im Radio France-Inter zudem ein Missverständnis beseitigen: Wenn es oft heiße, die Opfer „wollten nicht reden“, sei das falsch, denn diese „könnten nicht“, weil ihr Mund wie verschlossen sei. Im Fall Duhamel hat das Opfer erst heute, nach mehr als dreißig Jahren, eine Strafklage eingereicht – die wie in vielen Fällen wegen der Verjährung nicht zu einem Prozess führen dürfte.

Es darf nicht vertagt werden

Wie zuvor schon die Kampagne #MeToo nach dem Weinstein-Skandal erlaubt es die Netzwerk-Öffentlichkeit, das Schweigen über Fälle von Pädokriminalität mit Inzestcharakter zu brechen und auch die oft komplizenhafte Rolle der familiären Umgebung der Täter anzuprangern. Die Anthropologin Dorothée Dussy erinnert in der Zeitung Libération daran, dass seit Jahrzehnten schon in Europa 5 bis 10 Prozent der Kinder Opfer von sexueller Gewalt durch dominierende Männer im Familienkreis werde.

Der Premierminister Jean Castex sagte dazu im Fernsehen France-5 in einem Understatement: „Es scheint, dass da eine wahre Problematik existiert.“ Eine Gesetzgebung „unter dem Eindruck der Emotion“ möchte er aber vermeiden. Der Staatssekretär für Kindheit, Adrien Taquet, forderte dagegen die Abgeordneten der Nationalversammlung auf, dafür zu sorgen, dass nicht erneut mit „der Decke der Verleugnung“ alles relativiert oder vertagt werde. Da traf es sich, dass am Donnerstag im Senat eine Gesetzesvorlage verabschiedet wurde, die besagt, dass Erwachsene bei Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen unter 13 Jahren sich nicht auf eine „Zustimmung“ berufen können, sondern sich darum eines sexuellen Verbrechens schuldig machen.

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Frankreich-Korrespondent der taz seit 2009, schreibt aus Paris über Politik, Wirtschaft, Umweltfragen und Gesellschaft. Gelegentlich auch für „Die Presse“ (Wien) und die „Neue Zürcher Zeitung“.

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