Missbrauch an der Odenwaldschule: Eine Bedürfnisbefriedigungsanstalt

Die Odenwaldschule, das Vorzeigeinternat der Reformpädagogik, ins Mark getroffen durch systematische sexuelle Missbräuche, wagt den Versuch einer Wahrheitskommission.

Man fragt sich, je länger das dauert: Was war die Odenwaldschule unter Gerold Becker eigentlich: Eine Schule, in der es zu Missbräuchen kam? Oder eine Bedürfnisbefriedigungsanstalt, die nebenher auch ein wenig Schule machte? Bild: dpa

HEPPENHEIM taz | Oben im Wald stehen Menschen. Sie sind nah beieinander. Immer wieder tritt ein Gruppe vor, Arm in Arm. Sie werfen Zettel ins Feuer. Um ihre Sorgen zu verbrennnen. Es lodert auf, kurz fällt der Schein auf ein Skulpturen-Tryptichon. Ein Mann umarmt eine Frau. "Entschuldige, ich habe nicht hingeschaut," sagt er. Viele weinen.

Oben im Wald endet mit minutenlangen Umarmungen der Abend der Wahrheit an der Odenwaldschule. Über drei Stunden lang sitzen über 200 Menschen in der alten Turnhalle. Sie berichten sich über den vielfachen sexuellen Missbrauch, der hier geschah. Ein einmaliger Vorgang, denn es ist so etwas wie eine Wahrheitskommission. Und ein Gericht über den Haupttäter, Gerold Becker. Der ehemalige Direktor (1972-1985) hat es seiner Schule noch einmal schwer gemacht hat - er starb einen Tag, bevor die Wahrheitskommission begann.

"Ihr wollt immer verstehen! Hört auf, verstehen zu wollen. Hört endlich zu!" Ein Mann schreit. Obwohl er gleichzeitig glasklar ist und vollkommen rational. Er brüllt seinen Schmerz hinaus, einen Schmerz, den ihm 20 Jahre lang niemand abgenommen hat.

"Wisst ihr, wie es sich anfühlt, wenn man als 13-jähriger nachts aufwacht. Aufwacht, weil Gerold einem den Schwanz lutscht. Aber nicht so, wie es Erwachsene tun, um Lust zu empfinden. Sondern wie ein Berserker lutscht. So dass man Angst hat, er beißt einem den Schwanz ab. So bin ich nachts um drei geweckt worden. Und ich war 13."

Die Menschen winden sich. Sie möchten vor der Hitze in der Turnhalle davon laufen. Sie möchten fliehen vor der Wahrheit. Es sträubt sich alles in ihnen, zu glauben, dass dies ihr geschätzter Gerold war. Und dass es nicht in einer schmutzigen Absteige an irgendeinem Großstadtbahnhof geschah, sondern an der Odenwaldschule Oberhambach, ihrem Vorzeigeinternat, der Reformschule der liberalen Nachkriegselite Deutschlands. Einer Schule, deren Motto war: "Werde, der du bist."

"Ich war das aber nicht", sagt einer der Betroffenen oben auf der Bühne, "es kam nicht von mir. Ich habe es an dieser Schule gelernt, dass es normal ist, zu einem Erwachsenen ins Bett zu steigen. Ich war neun Jahre alt, als ich hier ankam."

Drüben im Bürohaus der Odenwaldschule hat noch vor einer Stunde einer maliziös gefragt, ob die Aufklärung nicht ein bisschen einseitig verlaufe. "Kann man jedem alles glauben? Ich frage ja nur: Wo gibt es einen zweiten Zeugen?"

In der Turnhalle, in der Bruthitze der Wahrheit, gibt es zweite und dritte und vierte Zeugen. Einer berichtet, wie ihn der Lehrer Wolfgang Held gestreichelt hat. Einer sagt, "Gerold Becker hat mich einfach genommen, brutal". Einer berichtet, dass ihn der Lehrer Jürgen Kahle onaniert hat. "Ich habe es geschehen lassen, aber ich bin am nächsten Tag zu ihm und habe gesagt, dass ich das nicht möchte." In einem beinahe literarischen Text, den der Moderator des Abends, Johannes von Dohnanyi, vorliest, wird die quälende tägliche Prozedur des Weckens durch den Schulleiter berichtet. Gerold Becker rieb den Halbwüchsigen den Penis, um sie zur Schule zu rufen.

Tilman Jens springt auf, auch er war Schüler hier. "Ich finde es makaber, was ihr macht. Gerold ist gestern gestorben. Auch er hat ein Recht auf seine Totenwürde." Jens wird ausgebuht.

Auf dem Podium sitzen zwei angesehene Juristen und ein Psychoanalytiker. Mehrere Therapeuten sind anwesend, um jene aufzufangen, die nicht mehr können.

Es sind viele Pädagogen da. Auch solche, die unter Gerold Becker bereits an der Schule waren. Allesamt beteuern sie, dass sie nicht gemerkt hätten, was geschah. Und weil niemand das glauben kann, werden die Fragen jetzt schärfer. Der Abend der Wahrheit verwandelt sich für Momente in ein Verhör. "Du hattest doch ein Verhältnis zu einer 18-jährigen Schülerin", sagt ein ehemaliger Schüler - und deutet auf einen Lehrer. "Ist es da ein Wunder, dass du nicht aufklären wolltest? Das war doch das Bonbon für Euch Lehrer. Ihr hatte Eure Freiheiten, dafür ließt ihr Gerold in Ruhe."

Der Angesprochene steht im Mittelpunkt. Wut steigt in den Leuten auf, der Mann zittert. Alle Aufmerksamkeit ist bei ihm, es ist ein Mitläufer identifiziert. Aber er flieht nicht. Er lässt sich ein Mikrofon geben. Er antwortet knapp und nervös. "Ja, ich hatte ein Verhältnis. Aber was hat das eine mit dem anderen zu tun?"

"Du willst deinen Arsch retten!" brüllt ihm einer aus drei Schritten Abstand ins Kreuz. Vorne kreischen ein paar Frauen vor Wut auf den Mann, der gerade vor 200 Menschen zugegeben hat, mit einer erwachsenen Schülerin geschlafen zu haben. Die Menge will all ihre Anspannung und Wut auf diesem Mann entladen. Geschrei. Angst macht sich breit - da sagt oben auf dem Podium Salman Ansari beinahe sanft. "Das geht nicht! Hört auf! Wir wollen hier die Wahrheit hören. Und wenn einer sie sagt, dann, bitte, hört ihm zu."

Salman Ansari war selbst Lehrer auf der Odenwaldschule. Seit 1999 zum ersten Mal herauskam, das es Missbrauch gab, richtet er bohrende Fragen an seine Kollegen. Sie haben ihn geschmäht dafür, als Judas und Verräter bezeichnet. Sie haben ihn ausgestoßen. Jetzt stellt sich Ansari auf die Seite derer, die zu sprechen bereit sind.

Kurz danach wird ein zweiter Lehrer enttarnt, es ist ein Ehemaliger. Er war bekannt und gefürchtet für seine beißenden Witze. Er verhaspelt sich. Dann sagt er zu einer Sentenz, die damals so vielen die Augen geöffnet hatte: "Das war ein Witz! Ich hatte doch keine Ahnung, dass die Wirklichkeit meinen Witz übertraf. Wenn ich das geahnt hätte, dann hätte ich den Witz nie gemacht!"

Es geht blitzschnell, man durchschaut nicht mehr jede Volte, jedes selbstverräterische Detail. Johannes von Dohnanyi sagt zu dem Mann: "Du hättest also geschwiegen?" Der Lehrer hat wohl selbst nicht verstanden, was er gerade sagte. Nun piepst er, "so lasst mir doch mein Unterbewusstes. Und selbst wenn ich gewusst hätte, was geschah, dann hätte ich es nicht gesagt", offenbart er. "Weil Ich Angst hatte, dass die mir juristisch an den Kragen gehen."

Es ist die einzige smoking gun, die die Wahrheitskommission hinaustragen wird. Ein dürres Sätzchen, das dennoch den ganzen Verrat an den Schülern zeigt: Ein Lehrer befürchtet Strafverfolgung, wenn er offenbart, dass Kriminelles mit halbwüchsigen Schülern geschieht. Nicht die Schüler schützt er, sondern sich - und die Täter.

"Wir haben uns nur um uns selbst gekümmert", sagte Salman Ansari gleich zu Beginn des Wahrheitsabends. "Die Kinder waren zweitrangig." Jetzt, drei Stunden später verstehen viele, was er gemeint hat. "Wir stritten uns über unsere Ideologien von Erziehung. Und Gerold Becker hat es genossen, uns zu teilen in Kinderfreunde und Kinderfeinde. Wir waren die ganze Zeit mit uns selbst beschäftigt."

Man fragt sich, je länger das dauert: Was war die Odenwaldschule unter Gerold Becker eigentlich: Eine Schule, in der es zu Missbräuchen kam? Oder eine Bedürfnisbefriedigungsanstalt, die nebenher auch ein wenig Schule machte?

Aber die Lehrer, die nun reihum auf die Anklagebank gesetzt werden, sie verstehen das nicht oder wollen es nicht verstehen, was das Ethos eines Lehrers sein könnte. Sie sagen in endlosen Schleifen: "Niemand hat mich vorbereitet auf meine Aufgabe, niemand hat mir gesagt, was ich tun soll. Ich schwöre, ich habe nichts bemerkt." Sie sagen Ich, ich, ich. "Ich kann nichts dafür."

"Ich höre immer nur Gerold Becker", wirft ein Ex-Schüler ein, "aber das ist nur die eine Seite, die andere seid ihr. 30 Prozent von Euch hatten doch sexuelle Verhältnisse mit Schülern." Und einer der Betroffenen schreit so laut, dass es einen schaudert, "wie laut sollen wir denn noch brüllen, dass ihr uns zuhört!"

Da sagt hinten einer der ehemaligen Lehrer, leise. "Es tut mir leid, dass ich nichts gesehen habe. Bitte, entschuldige."

Oben im Wald wird das mächtige, drei Meter hohe Tryptichon immer wieder von den verbrennenden Sorgen beschienen. Es zeigt eine Hand, der ein Finger abgeht. Einen Baum ohne Krone. Und ein Pflänzchen, das wieder wachsen möchte.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.