Minister über ukrainisches Getreide: „Weizenexporte werden sinken“
Trotz Exporten leidet der ukrainische Getreidesektor unter dem Krieg. Agrarminister Mykola Solskyj über belastete Landwirte und die Aussichten für 2023.
taz: Herr Solskyj, dank der im Sommer 2022 vereinbarten UN-Getreideinitiative mit Russland kann die Ukraine wieder Getreide über das Schwarze Meer exportieren. Trotzdem hat der ukrainische Agrarsektor durch den russischen Angriffskrieg Verluste erlitten. Wie groß fallen diese bisher aus?
Mykola Solskyj: Die Verluste sind sehr hoch: verlorene Technik, verminte Felder, zerstörte Gebäude und Aufzüge, verlorene Ernten, zerstörte Vieh- und Geflügelzucht … Nach unseren Schätzungen beliefen sich die direkten Verluste bis Ende 2022 auf etwa 7 Milliarden Dollar. Die indirekten Verluste beliefen sich auf etwa 30 Milliarden Dollar. Und sie steigen täglich weiter an.
Wie ist die Situation aktuell?
Wir exportieren weiterhin Getreide, kämpfen für die Erweiterung des Getreidekorridors – um die Schwarzmeerroute auch für den Transport anderer Lebensmittel sowie Rohstoffe zu öffnen. Momentan ernten wir noch Mais, weil sich die Saison wegen des Krieges verzögert hat. Gleichzeitig bereiten wir uns auf die neue Aussaatsaison vor. Der Krieg heißt für unsere Landwirte erschwerte Bedingungen, zum Beispiel große Verluste, Mangel an Arbeitskräften aufgrund von Migration und Mobilisierung oder hohe Preise für Betriebsmittel. Aber sie geben nicht auf und versuchen, ihre Felder so gut wie möglich zu bestellen.
Trotz des russischen Überfalls war die Ukraine 2022 neuntgrößter Weizenproduzent der Welt und belieferte nicht nur sich selbst, sondern auch Dutzende Länder in Asien und Afrika. Wie schätzen Sie die Lage für 2023 ein?
Wir müssen noch etwa 20 Millionen Tonnen aus der vorherigen Saison herausbringen – das sind Getreide, Ölsaaten und verarbeitete Produkte. Das ist keine geringe Menge. Ich denke, dass die Gesamternte in diesem Jahr geringer ausfallen wird als 2022. Die Landwirte sparen mehr, investieren weniger in die Aussaat, und es gibt Schwierigkeiten mit Düngemitteln. All das wird sich auf die Ernte auswirken.
Zumal einige Agrarsektoren bislang vor allem auf Masse hin produzieren.
So ist es. Und bei großen Mengen treten mehr Probleme mit dem Export auf. In diesem Jahr stellen die Landwirte deshalb auf sparsamere Agrarkulturen wie Sonnenblumen und Sojabohnen um – was die Exportlogistik deutlich vereinfacht. Das heißt aber auch: Wir werden in diesem Jahr eine kleinere Ernte haben – wie viel weniger, ist schwer zu sagen. Bei optimalen Witterungsbedingungen wird sie etwa 5 bis 10 Prozent geringer ausfallen als 2022.
Jahrgang 1979, ist seit März 2022 Agrarminister der Ukraine. Zudem sitzt er seit 2019 im ukrainischen Parlament, der Rada.
Was bedeutet das für die Exporte?
Wir erwarten, dass die Weizenexporte 2023 um mindestens 25 Prozent sinken. Vielleicht sogar noch mehr. Wir haben weniger gesät und gedüngt. In drei bis vier Monaten werden wir die genauen Angaben haben. Die Maisexporte werden auch geringer ausfallen, jedoch nicht die Mengen an Raps und Sojabohnen, die höchstwahrscheinlich gleich bleiben werden. Der Export von Sonnenblumen könnte sogar zunehmen.
Wie wird sich dies auf den Weltmarktpreis für Getreide und auf die Ernährungssicherheit auswirken?
Es wird den Preis nach oben treiben. Die Situation auf dem Weltmarkt hängt jedoch nicht allein von der Ukraine ab, es gibt viele Faktoren, beispielsweise das Wetter oder die Ernte in anderen Ländern. Natürlich ist der Krieg ein Einflussfaktor, aber nicht der entscheidende.
Kyjiw wird oft dafür kritisiert, zu viele Futterpflanzen anzubauen – statt Pflanzen für die Ernährung der Menschen. Dieser Trend scheint sich 2023 noch zu verstärken …
Diejenigen, die so etwas sagen, haben die grundlegenden Dinge nicht verstanden. Für wen bauen wir Futterpflanzen an? Für die Tiere. Der Logik der Kritiker nach hieße das: Die Menschen sollen nur noch Brot essen. Ich halte diese Diskussion für Zeitverschwendung. Für die Landwirte wirkt sie, als würde man darüber diskutieren, ob unser Planet wirklich rund ist.
Inwieweit beeinflussen die für die Aussaat verlorenen Gebiete – sogenannte verschmutzte oder besetzte Felder – die Gesamtsituation?
Solche verschmutzten Flächen gibt es vor allem in der Region Cherson. Die Felder sind unterschiedlich stark kontaminiert: Felder mit nicht explodierten Sprengkörpern, verminte Felder und Felder, die mit Trümmern kontaminiert sind. Dementsprechend benötigen sie unterschiedlich viel Zeit für die Räumung. Es gibt noch Hunderttausende Hektar solcher Felder. Natürlich werden sie die Erntemenge insgesamt beeinträchtigen, weil sie erheblich sind, allerdings wird die Lage nicht kritisch sein. Sowohl Landwirte als auch Unternehmen beteiligen sich aktiv an der Entminung.
Werden die befreiten Gebiete Charkiw und Cherson an der Agrarkampagne des Frühjahrs teilnehmen?
In der Tat werden sie bereits an dieser Aussaatsaison teilnehmen. Ende Mai wissen wir, wie viele genau.
Die Initiative Grain from Ukraine, ein humanitäres Nahrungsmittelprogramm, das im vergangenen November, zum 90. Jahrestag des Beginns des Holodomor von 1932 bis 1933, von Präsident Wolodimir Selenski ins Leben gerufen wurde, hat bereits erhebliche Unterstützung von internationalen Partnern erhalten …
Die Hauptidee war, die ärmsten Länder Afrikas mit Getreide zu versorgen. Sie ist gut gestartet und funktioniert. Viele Länder sind zu Spendern geworden und sind bereit, insgesamt etwa 200 Millionen Dollar in den Kauf von Getreide, die Schiffsfracht, die Logistik und die Verteilung zu investieren. Bislang sind fünf Schiffe mit unserem Getreide nach Somalia, Äthiopien und Kenia ausgelaufen. Die nächsten Schiffe sollen in den Jemen und in den Sudan fahren. Die Initiative war möglich nach dem Schwarzmeer-Getreide-Abkommen für Exporte aus ukrainischen Häfen …
… das nach monatelanger Hafenblockade durch Russland im Juli 2022 verabschiedet wurde. Zuletzt war das Abkommen im November weitere vier Monate verlängert wurden. Heißt: Nach jetzigem Stand läuft es am 18. März aus …
Die Verhandlungen mit Russland, der Türkei und den Vereinten Nationen zwecks Verlängerung laufen. Der Beitrag der Ukraine zur Bekämpfung des Hungers in der Welt ist ja offensichtlich. Gleichzeitig hat diese Vereinbarung eine Schlüsselrolle für den ukrainischen Agrarsektor in den letzten sechs Monaten gespielt.
Einer der Aspekte, für den die Ukraine ebenfalls kritisiert wurde, ist, dass ein Großteil der Getreideexporte in europäischen Ländern und nicht in Afrika landet …
Erstens ist dies nicht wahr. Statistiken zeigen, dass über 40 Prozent des ukrainischen Weizens nach Afrika und in den Nahen Osten geht. Ein weiterer Teil geht nach Europa und der Rest nach Asien. Nach Afrika geht weniger Mais als Weizen, aber das war schon immer so. Nichts ist daran außergewöhnlich. Ich kann versichern, dass eine Menge Weizen, Mais und Ölsaaten nach Afrika gehen. Zweitens hat das Getreide, das an andere Länder verkauft wird, auch positive Auswirkungen auf die ärmsten afrikanischen Länder. Denn das globale Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage verbessert sich: Der Preis steigt nicht – oder zumindest langsamer.
Präsident Selenski hat kürzlich den ukrainischen Agrarsektor als eine der drei wichtigsten Säulen für die Erholung der Ukraine bezeichnet. Er betonte insbesondere die Schaffung von Getreidedrehscheiben in der EU, in Asien und Afrika. Warum ist das wichtig?
Die Logistik in afrikanischen Ländern ist offensichtlich weniger entwickelt als in anderen Teilen der Welt. Die Häfen dieser Länder müssen so ausgebaut werden, dass das Getreide schnell entladen, gelagert und in guter Qualität an die Kunden im Land weiterverkauft werden kann. Wir analysieren diese Situation und sehen Perspektiven. Dies wird auch dazu beitragen, die Ukraine und die EU einander näherzubringen, da wir eine gemeinsame Vision und dieselben Werte in Bezug auf die Fähigkeit der afrikanischen Bevölkerung haben. Wir nehmen ihr Recht auf hochwertige und genügend Nahrungsmittel wahr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Parteitag der CDU im Hochsauerlandkreis
Der Merz im Schafspelz
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs