Militärprozess in Guantanamo: Kindersoldat droht lebenslänglich
Omar Khadrs soll einen US-Soldaten getötet haben. Das Geständnis wurde allerdings gewaltsam erpresst. Macht nichts, befand das US-Militärtribunal und eröffnet den Prozess.
Geständnisse gelten. Auch wenn der Geständige ein schwer verletzter, von allen verlassener 15-jähriger Junge war. Auch wenn es keinen Zweifel daran gibt, dass er während der Verhöre im afghanischen Bagram gelegentlich mit einer über sein Gesicht gestülpten undurchsichtigen Kapuze länger stehen musste, mit den Händen über Kopf an zwei Zellenwände gefesselt. Auch wenn er zu Verhörzwecken des Schlafes beraubt wurde. Und auch wenn er selbst von angedrohten Gruppenverwaltigungen und anderen Misshandlungen berichtet.
Die Militärjustiz in Guantánamo hat sich davon nicht beeindrucken lassen. Am Montag entschied sie - am Ende von monatelangen Anhörungen -, dass die Geständnisse ausreichen und zulässig sind, um Omar Khadr den Prozess zu machen. Der inzwischen 23-Jährige ist als Gefangener erwachsen geworden. Nachdem er von zwei Schussverletzungen genesen war und trotz Bombensplitter eines seiner Augen wieder funktionierte, hatte er in Guantánamo am Unterricht teilnehmen können. Jetzt ist er wegen Mord, Verschwörung und Spionage angeklagt. Das Militärgericht in Guantánamo wird von heute an über ihn richten. Bei einer Verurteilung droht ihm Lebenslänglich.
Ob Omar Khadr an seinem eigenen Prozess teilnehmen wird, ist offen. Er hat bis zuletzt versucht, diesen Prozess zu verhindern. Aber die "Einigung", wie die Militärjustiz sie ihm vorgeschlagen hat - ein Schuldeingeständnis seinerseits als Gegenleistung für eine niedrigere Strafe von "nur" fünf weiteren Jahren Guantánamo -, hat er abgelehnt. Während der monatelangen Anhörungen, bei denen es ausschließlich um sein weiteres Schicksal ging, weigerte er sich immer wieder, seine Zelle zu verlassen.
Das Lager: 2002 von Präsident George W. Bush im "Kampf gegen den Terror" auf dem US-Marinestützpunkt in Kuba eingerichtet. Es ist ausschließlich für Ausländer reserviert. Ehemalige Häftlinge und Menschenrechtsorganisationen berichten von illegalen Verhörmethoden und Folter während der Bush-Ära.
***
Die Gefangenen: 178 von ursprünglich 700 Gefangenen sitzen heute noch ein - ohne Anklage, abgeschnitten von ziviler Kontrolle. Während der Bush-Ära sind nur drei Guantánamo-Gefangene verurteilt worden.
***
Der Fahrer: Ohne Prozess, aber mit einer "Einigung", bei der der Angeklagte sich "schuldig" befand, ist am Montag ein ehemaliger Fahrer von Bin Laden wegen "Verschwörung" verurteilt worden. Die Strafhöhe gegen Ibrahim al-Qosi ist nicht bekannt.
***
Die Schließung: ist trotz Obamas Versprechen noch nicht erfolgt. Die USA selbst wollen keine ehemaligen Gefangenen aufnehmen, andere Länder zögern ebenfalls. Dies trifft auch auf die 32 von den US-Behörden als "politisch unbedenklich" eingestuften Häftlinge zu, die nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können, da ihnen dort politische Verfolgung droht.
***
Deutschland: Hamburg und Rheinland-Pfalz werden zum 1. September jeweils einen Ex-Häftling aufnehmen.
An jenen Tagen, an denen er in den Gerichtssaal kam, führten zwei Soldaten den vollbärtigen jungen Mann in einem wadenlangen weißen T-Shirt hinein. Erst nachdem er auf dem Sessel neben seinen Verteidigern saß, nahmen sie ihm die Fußfessel ab. Während der Anhörungen verbrachte Omar Khadr seine Zeit im Gerichtssaal schweigend. Wirkte oft wie abwesend. Nur wenn er vom Richter gedrängt wurde, reagierte er auf Fragen. In der Regel mit Ein-Wort-Antworten. Sollte er zu seinem Prozess erscheinen, ist nicht ausgeschlossen, dass er es weiterhin so handhaben wird.
Jugend im Kriegsgebiet
Als Jugendlicher und ganz junger Erwachsener verhielt Omar Khadr sich anders. Da hat er ohne Probleme und ausführlich mit seinen Verhörern - von denen manche aus den USA, andere aus Kanada stammten - gesprochen. Mehrere Dutzend "special agents" - von denen die Militärjustiz nur eine Handvoll ausgewählter Vertreter zu den Anhörungen in Guantánamo vorgeladen hat - haben ihn verhört. Omar Khadr hat ihnen geholfen, ihr "Who's Who" der al-Qaida zu vervollständigen. Die Verhörer sagten Namen und brachten Fotoalben und Videos mit. Darauf waren die bärtigen Gesichter von Männern zu sehen, die in der westlichen Welt als Schwerverbrecher galten. Für den 15-Jährigen waren viele davon so etwas wie Onkels und Großväter.
Es war der eigene Vater, der Omar Khadr, noch bevor er in den Stimmbruch kam, aus seiner Geburtsstadt, dem kanadischen Toronto, mit nach Afghanistan genommen und ihn in Kontakt mit Al-Qaida-Leuten gebracht hat. Mit ihnen lernte der jugendliche Omar, Landstraßen zu überwachen und ausländische Truppenbewegungen per Walkie-Talkie durchzugeben. Er lernte, Informationen von einem Ort zum anderen zu bringen. Und er lernte, Sprengsätze zu bauen.
Omar Khadr verbrachte die Pubertät in dem Kriegsgebiet. Für seinen in Ägypten geborenen Vater waren jene Jahre, während derer er mit der "humanitären" Organisation "Health and Education Project" Aktivitäten von al-Qaida finanzierte, schon fast das Ende. Im Herbst 2003 kam der Vater bei einer Schießerei mit pakistanischen Soldaten ums Leben. Ein weiterer seiner Söhne, der damals 14-jährige Karim, sitzt seither im Rollstuhl und ist - mit der Mutter - nach Toronto zurückgekehrt. In Kanada sind die Khadrs - Mutter und Schwester und weitere Brüder - als "Al-Qaida-Familie" verschrien. Weder das Oberste Gericht noch der konservative Regierungschef Stephen Harper haben das Geringste unternommen, um Omar Khadr aus Guantánamo nach Hause zu holen. Er ist der einzige Angehörige eines westlichen Staates, der noch in dem Gefangenenlager sitzt.
Was heute in Guantánamo beginnt, ist der erste Militärprozess der Ära Obama. Und damit ein Ereignis, das nie hätte stattfinden sollen. Bei seinem Amtsantritt im Januar 2009 hatte der neue US-Präsident feierlich angekündigt, er werde das Gefangenenlager auf der US-Militärbasis in Kuba schließen und die dort gefangen gehaltenen Männer vor Strafgerichte in den USA stellen. Er gab sich - und dem für Guantánamo zuständigen Pentagon - exakt ein Jahr Zeit für die Abwicklung von Guantánamo.
Eineinhalb Jahre danach ist kein Ende des Gefangenenlagers und kein Ende der Militärjustiz in Sicht. Anders als zu Zeiten von Obamas Amtsvorgänger George W. Bush - der das Lager wenige Monate nach den Attentaten vom 11. September eröffnete - spricht heute in den USA kaum noch jemand von der exterritorialen und von keiner zivilen Öffentlichkeit kontrollierten Militärjustiz. Unter dem Präsidenten, der es abschaffen wollte, ist Guantánamo zu einem Thema geworden, mit dem sich nur noch Insider befassen. Und selbst sie glauben nicht mehr an ein Verschwinden des Lagers in absehbarer Zeit. Alle wissen auch, dass ein Wahljahr wie dieses ein ungünstiger Zeitpunkt ist, um öffentliche Gespräche über einen gerechten und rechtsstaatlichen Umgang mit "Terroristen" zu führen.
Der Prozess gegen Omar Khadr wird das erste Verfahren gegen einen Kindersoldaten, dem Taten aus einer Kriegssituation vorgeworfen werden. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges, als in Deutschland und Frankreich ein paar jugendliche Nazis vor Gericht gestellt wurden, ist dergleichen nicht mehr vorgekommen. Selbst in Sierra Leone und anderen afrikanischen Ländern, wo Minderjährige massiv zu Kriegsdiensten missbraucht wurden, hat anschließend niemand diese Kinder vor Gericht gestellt. Sie gelten als Opfer. Nicht als Täter. Im Ausland hat es für Kritik gesorgt, dass die USA in Guantánamo diese Regel brechen.
Doch die Militärrichter von Guantánamo hat das nicht beeindruckt. In ihren am Montag abgeschlossenen Anhörungen haben sie die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Omar Khadr geklärt: Für sie war der 15-Jährige ein "reifer und intelligenter Junge". Einige "special agents", die ihn in Afghanistan und in Guantánamo verhört haben, beschreiben den Gefangenen jener Jahre als "happy". Als "kooperativ". Und sie beschreiben auch einen Jungen, der stolz auf das war, was er getan hat.
In den acht Jahren seiner Gefangenschaft - mehr als ein Drittel seines Lebens - hat Omar Khadr sich verändert. Ein Video zeigt einen fröhlichen Jungen, der gerade erst in Afghanistan angekommen ist, beim Bombenbauen. Direkt neben den tödlichen Waffen ist ein Teddybär zu sehen.
Die Handgranate
Am 27. Juli 2002 kommt es zu dem Gefecht mit US-Soldaten, das Omar Khadr beinahe das Leben gekostet hätte. Laut seiner Aussage ist das Haus in Afghanistan nach vier Stunden ein Trümmerhaufen. Die drei jungen Männer, mit denen sich Omar Khadr dort aufhielt, sind tot. Zwei sind aus der Luft erschossen worden. Der Dritte soll, als er bereits schwer verletzt war, aus unmittelbarer Nähe getötet worden sein. Omar Khadr hat zwei Einschüsse im Oberkörper.
Er hat nie zuvor eine Handgranate benutzt. Doch in dem Trümmerhaufen sieht er eine. Nimmt sie. Und wirft sie, ohne sehen zu können, worauf er zielt, hinter sich. Die Granate fliegt über die Reste einer Mauer. Sie trifft den US-Soldaten Christopher Speer. Der 29-jährige Soldat stirbt am 6. August an seinen Verletzungen.
Seine Witwe ist zu dem Prozess in Guantánamo eingeladen. Als Zivilistin wird sie in dem Gerichtssaal voller Uniformierter ziemlich allein sein. Angehörige von Khadr werden nicht kommen. Seit seiner Gefangennahme hat er seine Verwandten nicht mehr gesehen.
Von dem Gefecht gibt es keine Bilder. Der einzige Beleg für Omar Khadrs Verantwortung ist sein eigenes Geständnis - das er inzwischen eidesstattlich widerrufen hat.
In den Anfängen seiner Gefangenschaft hatte Omar Khadr sich von seiner Jugend bei al-Qaida distanziert. Er sagte, er verdanke sein Überleben den USA und wolle nach Kanada zurück, um Arzt zu werden. Inzwischen schmiedet er, sagen die Verteidiger, keine Lebenspläne mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag