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Migration und RassismusSind die neunziger Jahre zurück?

Christian Jakob
Kommentar von Christian Jakob

Auch wenn sie jetzt wieder Flüchtlingsheime anzünden und Flüchtlinge angreifen – das Deutschland von einst kriegen die Rassisten nicht zurück.

Flüchtlingsunterkunft in Berlin Bild: dpa

O ft stand in der taz, dass Deutschland dazugelernt habe. Dass es heute anders umgehe mit denen, die kommen, obwohl es immer mehr werden. Solidaritätsinitiativen allerorten, weniger Schikanen in Asylgesetzen, Bekenntnisse der Mitte zur Einwanderungsgesellschaft.

Die Ereignisse der letzten Zeit lassen daran zweifeln. Die Zahl der Angriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte hat sich in den letzten zwei Jahren jeweils etwa verdoppelt. Jetzt ist April, und es dürfte schon mehr Anschläge gegeben haben als im ganzen Jahr 2014. Sind die Neunziger zurück?

Freital in Sachsen, letzte Woche: Hunderte ziehen durch die Stadt, rufen: „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen.“

Leipzig, am letzten Samstag: Ein junger Syrer wird in den Hals geschossen, er stirbt fast. Die Polizei gibt den Vorfall erst zwei Tage später bekannt. Statt auf Nachfrage den Schuss gleich zu bestätigen, warnt sie erst mal vor „voreiligen Schlüssen“, dass die Täter „Deutsche“ seien.

Berlin, am Montag: Die Linken-Vorsitzende Katja Kipping fordert die Bundesregierung auf, mehr dagegen zu unternehmen, dass Linken-Politiker wegen ihrer Pro-Einwanderungs-Haltung Morddrohungen bekommen.

Dresden, am Montag: Zehntausend Pegida-Demonstranten wünschen die „Volksverräter“ zum Teufel.

Berlin, am Dienstag: Ein Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge brennt aus. Die Ursache ist noch unklar. Niemand wurde verletzt, doch das Haus ist unbewohnbar. Auch eine Containerunterkunft in Hamburg-Hammerbrook brennt aus, auch hier sind die Gründe unklar, auch hier leben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

Kittlitz, Brandenburg, am Mittwoch: Der Ortsbeiratsvorsitzende tritt nach Drohungen wegen eines Flüchtlingsheims zurück.

Die Gewalt nimmt zu

Ist das wieder das Deutschland, vor dem alle Angst haben – auch der Staat selbst? Bricht eine neue Zeit der Pogrome an? Und wenn ja: Wie geht es dann weiter? Die Zahl der Flüchtlinge hat sich von 2007 bis 2014 verzehnfacht. Bis Ende 2015 könnte sie sich verzwanzigfacht haben. Auch die deutlich höhere Zahl während des Krieges in Jugoslawien hat Deutschland gut verkraftet – gleichwohl nutzen die Nazis die Zunahme als Rechtfertigung für ihre Gewalt.

Doch es gibt auch eine Öffnung. Ob diese den Namen Willkommenskultur verdient hat, sei dahingestellt. Doch wo sich früher nur winzige Grüppchen um Flüchtlinge kümmerten, ist heute das Ausmaß von Solidaritätsinitiativen kaum zu überblicken. Während früher Medien auch für die allerhärtesten Abschiebeschicksale kaum zu interessieren waren, findet sich heute in den Zeitungen fast jeden Tag eine Geschichte über Asylsuchende.

1992 verweigerte Helmut Kohl die Teilnahme an der Trauerfeier für die Opfer von Mölln – er wolle keinen „Beileidstourismus“ betreiben. Merkel hat letzten Endes für die NSU-Opfer einen Staatsakt veranstaltet; als Ostern in Tröglitz das Flüchtlingsheim brannte, war Stunden später der Ministerpräsident vor Ort. Fast alle großen Medien sind in Sachen Flüchtlinge auf einen vergleichsweise freundlichen Kurs geschwenkt. Für Pegida haben sie nur Spott übrig. Es war der Generalsekretär der CDU, der ein Einwanderungsgesetz vorgeschlagen hat, das nun greifbar nahe scheint. Die störrische, völkisch motivierte Gegnerschaft zur Migration ist nicht mehr haltbar.

Trotzdem ähnelt die Gewalt gegen Migranten mittlerweile der in den Neunzigern. Gleichzeitig haben die Migranten - und die Flüchtlingskämpfe - die Gesellschaft unumkehrbar modernisiert. Weite Teile der Gesellschaft akzeptieren heute Migration, auch wenn selbst das sich liberal wähnende Lager durchaus seine Probleme damit hat – zu besichtigen immer dann, wenn im eigenen Viertel Flüchtlingsheime eröffnen.

Doch was uns erwartet, ist keine rassistische Hegemonie, nicht einmal in ostdeutschen Käffern, sondern eine wachsende Polarisierung: zwischen denen, die die Vorstellung von einem offenen Deutschland nicht ertragen, und den anderen, die für eben dieses einstehen.

Kann man etwas gegen das Auseinanderdriften tun? Ja. Solange der Bund sich weigert, die Kommunen, die die Flüchtlinge aufnehmen müssen, ausreichend zu finanzieren, ist es nicht verwunderlich, wenn die Nazis behaupten, für das Jugendzentrum sei kein Geld da, für Asylbewerber aber schon. Und: Das Versagen der Justiz bei der Verfolgung rechter Gewalt, Paradebeispiel ist die katastrophale NSU-Aufarbeitung, muss ein Ende haben.

Polarisierung aushalten

Die große Frage aber lautet, wie der eine Teil der Gesellschaft mit dem anderen umgehen soll. Man wird aushalten müssen, dass die Spannung zunimmt.

Der Riss geht selbst mitten durch die Union. Ihre einst offen fremdenfeindlichen Positionen dürften die Täter von Hoyerswerda und Lichtenhagen bestärkt haben. Heute ist die Situation ambivalenter: Die Wirtschaft dringt darauf, mehr Einwanderung zuzulassen, völkischer Sound ist auch bei vielen Konservativen nicht mehr en vogue. Dabei geht es der Wirtschaft um Arbeitsmigration, Flüchtlinge sind weniger ihr Thema. „Auf der Straße“ aber wird die Frage der Internationalisierung Deutschlands vor allem am Beispiel der nichteuropäischen Flüchtlinge verhandelt. Deshalb richtet sich die Gewalt vor allem gegen sie.

Während am Dienstag in Berlin und Hamburg Flüchtlingsheime brannten, veranstaltete Bundesinnenmininister de Maizière eine Konferenz, um ein Einwanderungsgesetz zu verhindern. Gleichzeitig strickt er an einem neuen Gesetz zur Masseninhaftierung von Flüchtlingen, er ist eine treibende Kraft der EU-Abschottung und mitverantwortlich dafür, dass immer wieder aufs Neue Hunderte Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken. Teile der sächsischen CDU zeigen Verständnis für Pegida, die CSU ist in Teilen von der AfD nicht zu unterscheiden. Doch man kann über Einwanderung nicht so streiten wie über Kohlekraft oder Hartz IV. Nirgendwo sonst ist der Grat zum Vernichtungswillen so schmal wie in der Migrationsdebatte.

Die Union wird sich ihre zukünftigen Signale überlegen müssen. Der politische Preis für ihre Ambivalenz in Sachen Einwanderung jedenfalls wird angesichts der zunehmenden Gewalt gegen Migranten steigen.

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Christian Jakob
Reportage & Recherche
Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social
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4 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Einwanderer und Flüchtlinge müssen den Kampf um ihre Emanzipation und Gleichstellung in Deutschland aufnehmen! Sie dürfen nicht warten auf europäisches Gutmenschentum, sondern sie müssen selbst aktiv gegen Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung kämpfen!

     

    Ein Beispiel für den antirassistischen Emanzipationskampf ist die amerikanische Black Panther-Bewegung. Im Gegensatz zu Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung hatten sie einen entschiedenen Klassenstandpunkt eingenommen, was die Herrschenden mit einer Welle rassistischer Verfolgung und Unterdrückung beantworteten.

     

    Bobby Seale schreibt unter "Warum wir keine Rassisten sind", unter anderem: "Von uns aus gesehen ist es ein Klassenkampf zwischen der großen proletarischen Arbeiterklasse und der kleinen Minderheit der herrschenden Klasse. Die Menschen aller Farben in der Arbeiterklasse müssen sich gegen die ausbeuterische, bedrückende herrschende Klasse zusammentun. Um es noch einmal zu betonen: Wir meinen, dass unser Kampf ein Klassenkampf ist, aber kein Rassenkampf."

     

    Merke: In den weltweiten Herkunftsregionen wie in EU-Europa, einschließlich der Bundesrepublik Deutschland, ist es ein Klassenkampf, den wir gemeinsam führen müssen.

    • @Reinhold Schramm:

      "Wir hungern nicht nach Gewalt; wir wollen keine Gewalt. Gewalt ist widerlich. Waffen sind widerlich.

       

      Aber wir meinen, dass es zweierlei Gewalt gibt: die Gewalt, die die faschistische Aggression der Machthaber an uns übt ---

       

      und die Selbstverteidigung, dass heißt eine Form der Gewalt, durch die wir uns gegen die über uns verhängte ungerechte Gewalt wehren." (Bobby Seale) *

       

      * Wir fordern Freiheit. Der Kampf der Black Panther.

  • Warum sollten diese Rassisten das Deutschland der 90 er Jahre zurück wollen. Soviel Unterstützung ich spreche jetzt nicht von der Bevölkerung hatten sie doch noch nie . Und das Europa weit. Siehe NS Prozesse, siehe die unter Polizeischutz stehenden rechten Auftritt. Was wollen sie noch mehr, da haben sie auh keine Angst, das kriege sie auch noch.

  • Ich stimme mit Ihnen weitesgehend überein. Ich sah jedoch einen Beitrag im TV und das Interview des Heimleiters zum Thema "Auch eine Containerunterkunft in Hamburg-Hammerbrook brennt aus, auch hier sind die Gründe unklar, auch hier leben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. "

     

    Konkret: Ein einzelner Container brannte aus, der benachbarte hatte Rauchspuren, ca. 20 Container ohne Schaden. Der Jugendliche hätte die Matraze selbst angezündet um ein besseres Quartier zu bekommen. Und es hieß, dass die Jugendliche agressive und starke Drogenkonsumenten sein. Dies könnte Meinungsmache sein, andererseits lässt es sich in Hamburg prima versumpfen. Oder nennen wir es ein Vergessen in den Drogenwelten. Wäre also denkbar. Es gibt immer zwei Gesichtspunkte. Natürlich sind die meisten Flüchtlinge harmlos, Frauen und Kinder. Hamburg war wohl eine Ausnahme.