Migration über das Mittelmeer: Geflüchtet oder geschleust?
In Griechenland ist ein Syrer zu 52 Jahren Haft verurteilt worden. Ein Gericht auf Lesbos behandelte den Mann als Schleuser – kein Einzelfall.
Obwohl K.S. die Vorwürfe abstreitet und es nach Angaben seiner Anwälte keine Beweise dafür gibt, wurde er am 23. April von einem Gericht auf Lesbos zu 52 Jahren Haft und einer Geldstrafe von 242.000 Euro verurteilt. Er wurde nicht nur der illegalen Einreise für schuldig befunden, sondern auch der Beihilfe zur illegalen Einreise – also Schleuserei. Dafür gibt es in Griechenland zehn Jahre Gefängnis, und ein weiteres Jahr für jede Person an Bord des Bootes.
52 Jahre Haft wegen einer Grenzüberquerung – das klingt absurd, das Urteil ist jedoch kein Einzelfall. Griechenland hat im europäischen Vergleich eine der strengsten Rechtslagen in Sachen Schleuserei, wohl aufgrund seiner geographischen Lage an der EU-Außengrenze. Betroffen von den unverhältnismäßig hohen Strafen seien jedoch nicht nur die tatsächlichen Schleuser, kritisieren Menschenrechtsorganisationen. Fälle wie der von K.S. zeigten, wie die griechischen Behörden Flucht kriminalisierten, indem sie Asylsuchende selbst in unfairen Gerichtsprozessen zu Schleusern erklärten.
Die Überfahrt am 1. März 2020 war nicht der erste Versuch der Familie S., die EU zu erreichen. Die Familie hatte Syrien im Jahr 2019 in die Türkei verlassen und hatte von dort aus anschließend dreimal erfolglos versucht, über die Ägäis nach Griechenland zu gelangen. Beim letzten Versuch im März vergangenen Jahres gab es einen entscheidenden Unterschied: Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte soeben die Grenzen geöffnet, um Druck auf die EU auszuüben, die Türkei stärker bei der Aufnahme syrischer Geflüchteter zu unterstützen. Tausende Geflüchtete drängten daraufhin in die EU.
Der Prozess dauerte vier Stunden
„Die türkische Küstenwache forderte uns auf, zu fahren“, sagte Ehefrau L.S. in einem Videoanruf Anfang Mai gegenüber der taz. Als die griechische Küstenwache auftauchte, sei der türkische Schlepper ins Wasser gesprungen und zurückgeschwommen. „Er drohte meinem Mann, uns alle zu töten, falls wir umkehren sollten.“
Das Boot, erinnert sich L.S., sei von Anfang an instabil gewesen und habe gedroht zu sinken. Deshalb habe sie ihren Mann gebeten, die Küstenwache um Hilfe zu bitten. Er sei daraufhin ins Wasser gesprungen und auf deren Boot zugeschwommen. „Sie legten ihm Handschellen an und nahmen ihn mit“, sagt L.S. „Sie behaupteten, dass er das Boot gesteuert hätte. Aber er wollte nur unsere Kinder retten.“ Als die griechische Küstenwache auftauchte, habe ihr Mann zwei der kleinen Söhne an der Hand gehalten, sie den dritten. „Wie soll er der Fahrer sein? Welcher Schleuser würde seine Frau und Kinder mitbringen?“, fragt sie und weint.
Geflüchtete Frau aus Syrien
Seit der Festnahme ihres zwei Jahre älteren Mannes hat die 25-jährige Syrerin K.S. nur einmal gesehen. Das war Ende April im Gericht von Mytilini auf Lesbos, am Tag des Prozesses, der nur vier Stunden dauerte. K.S. sei kollabierte, als er seine Familie zum ersten Mal seit 13 Monaten wiedersah, erinnert sich seine Frau. Sie selbst sei während ihrer Zeugenaussage in Tränen ausgebrochen.
Laut den Anwält:innen des Legal Center Lesvos, die den Syrer verteidigt haben, sagten außer ihr nur eine Vertreterin der Organisation Aegean Migrant Solidarity und ein Mitarbeiter der griechischen Küstenwache aus. Dieser habe zwar in einem ursprünglichen Statement gegenüber der Polizei angegeben, dass K.S. das Boot gesteuert habe. Vor Gericht habe er das jedoch nicht bestätigt, erklärt Vicky Angelidou, eine der beiden Anwält:innen von K.S., in einem Telefonat. Der Mitarbeiter habe K.S. lediglich beschuldigt, das Boot mit den Geflüchteten beschädigt zu haben. „Es gab überhaupt keine Beweise,“ sagt Angelidou.
Dabei gibt es genügend potentielle Zeug:innen, die den Vorfall beobachtet haben und aussagen könnten: Laut Gerichtsurteil wagten 42 weitere Menschen auf demselben Boot die Fahrt nach Griechenland. Viele kamen aus dem Kongo oder Somalia, erinnert sich L.S., Syrer:innen seien außer ihrer Familie keine dabei gewesen. „Ich habe alles versucht, sie dazu zu bringen, als Zeugen auszusagen, zu bestätigen, dass mein Mann nicht der Schleuser war“, sagt L.S.. Doch niemand sei dazu bereit gewesen, aus Angst selbst angeklagt zu werden.
Eine berechtigte Sorge: Laut einem gemeinsamen Bericht der Organisationen Aegean Migrant Solidarity, Borderline Europe und bordermonitoring.eu saßen Anfang 2019 fast 2.000 Personen wegen Beihilfe zu illegaler Einreise in griechischen Gefängnissen. In vielen Fällen sei die Urteilsbegründung auf Vorurteilen und einer undifferenzierten Gesetzgebung aufgebaut, kritisiert der Bericht. Denn selbst wer tatsächlich ein Boot gesteuert habe, sei nicht automatisch ein Schleuser.
„Mitglieder von Netzwerken, die Überfahrten von Migrant*innen nach Europa organisieren, wissen selbst genau, dass das Steuern eines Bootes nach Griechenland mit einem massiven Risiko verbunden ist. Sie würden die Position des Fahrers selbst niemals einnehmen,“ stellen die Organisationen fest, die seit 2014 48 Gerichtsverfahren auf den griechischen Inseln beobachtet haben. Keines davon habe mit einem Freispruch geendet, im Durchschnitt seien die Angeklagten vielmehr zu knapp 20 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden.
Profit keine Voraussetzung für Schleuserei
In einigen Fällen habe es sich bei den Fahrern um Geflüchtete gehandelt, die sich die Überfahrt für sich selbst und ihre Familien nicht leisten konnten und für einen günstigeren Preis das Steuer übernahmen. In anderen Fällen seien Menschen als Schleuser identifiziert worden, nur weil sie eine andere Nationalität gehabt hatten als die Mehrheit der Personen an Bord. Laut griechischem Recht ist finanzieller Profit keine Voraussetzung für Schleuserei, sondern lediglich ein erschwerender Umstand. Lebenslange Haftstrafen und horrende Geldstrafen drohen also auch jenen, die aus humanitären Gründen Migrant:innen helfen oder selbst auf der Flucht sind.
Darüber hinaus stellen die Verfasser:innen des Berichts fest, dass Prozesse wegen illegaler Einreise und Beihilfe zur illegalen Einreise in Griechenland oft nicht rechtstaatlichen Standards entsprechen. So hätten die beobachteten Verhandlungen nur zwischen 15 und 75 Minuten gedauert und auf oberflächlichen Ermittlungen basiert. Es habe keine oder mangelhafte Übersetzung durch Dolmetscher:innen gegeben und den Angeklagten sei erst eine halbe Stunde vor Prozessbeginn ein rechtlicher Beistand zugewiesen worden.
Auch im Fall von K.S. habe es Unregelmäßigkeiten gegeben, berichtet das Legal Center Lesvos in einer Mitteilung. „Während der Vorverhandlungen und des Verhörs erhielt K.S. einen Farsi-Dolmetscher, obwohl er Arabisch spricht“, heißt es dort. „Trotz der Einwände seiner Anwält:innen entschied das Gericht, diese vermeintlichen Aussagen zu berücksichtigen.“
Die Anwält:innen des Legal Center Lesvos kritisieren auch, dass der einzige Belastungszeuge, der Offizier der Küstenwache, in seiner ursprünglichen Polizeiaussage in der dritten Person über die Vorfälle auf dem Meer gesprochen habe, als sei er selbst gar kein Augenzeuge gewesen.
Das Gericht hat bisher keine Urteilsbegründung veröffentlicht. Auf mehrfache Nachfrage der taz antwortete es nicht. K.S.' Anwält:innen sind gegen das Urteil in Berufung gegangen. Eine Entwicklung in dem Verfahren erwarten sie jedoch erst in einem Jahr. So lange bleibt der Syrer in Haft, während seine Familie nur wenige Kilometer entfernt in einem Flüchtlingslager festsitzt.
Seine Frau leidet eigenen Angaben zufolge unter schweren Depressionen. Auf dem Heimweg mit der Fähre nach dem Gerichtsprozess habe sie sich vorgestellt, ins Wasser zu springen und sich das Leben zu nehmen, erzählt sie. „Aber ich habe drei Kinder. Wer soll sich um sie kümmern?“ Es wäre vielleicht besser gewesen, denke sie manchmal, wenn die ganze Familie bei der Überfahrt nach Griechenland ertrunken wäre.
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