Michail Chodorkowski über den Krieg: „Der Westen tut sich schwer“
Der Westen entscheide zu langsam und ziehe immer noch rote Linien, kritisiert der russische Ex-Unternehmer Michail Chodorkowski. Mit Putin zu verhandeln, sei sinnlos.
taz: Herr Chodorkowski, im Westen mehren sich die Stimmen derer, die Verhandlungen mit Russland fordern, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Kann man mit Wladimir Putin verhandeln?
Michail Chodorkowski: Putin kann den Krieg nicht beenden. Er kann ihn stoppen, aber nicht beenden. Wir reden jetzt nicht von der Variante einer Ukraine in den Grenzen von 1991, was für Putin eine dramatische Niederlage bedeuten würde. Sondern ich meine eine Variante, die eher den derzeitigen Gegebenheiten entspricht. In diesem Fall kann man mit ihm verhandeln und er wird sagen, man könne den Krieg stoppen. Doch dann wird er diese Zeit dazu nutzen, um die Ukrainer*innen in den besetzten Gebieten zu mobilisieren. Der Wert ihres Lebens ist für ihn, politisch gesehen, null. Er wird immer mehr Waffen in die Ukraine schicken. Dann jedoch wird er gezwungen sein, den Krieg wieder anzufangen, das ist unausweichlich. Denn es ist klar, dass die Ukrainer*innen der Annexion von Teilen ihres Landes nicht zustimmen werden. Dazu kommt der Druck der Nationalpatrioten, ich meine Leute, wie den Chef der Söldner-Truppe Wagner Jewgeni Prigoschin, innerhalb Russlands. Hinzu kommt, dass Putin ein Mensch ist, dem seine eigenen Worte nicht viel bedeuten. Das haben wir auf der Krim und später noch mehrmals an anderer Stelle gesehen.
Heißt das, dass die Politiker*innen, die Verhandlungen fordern, naiv sind?
Diese Leute verwechseln Wunsch und Wirklichkeit. Ich bin kein Gegner von Verhandlungen. Sie sind notwendig, auch zwischen Feinden. Auf einigen Ebenen muss die Kommunikation aufrechterhalten werden. Nehmen Sie die Frage des Austausches von Gefangenen. Aber sich an einen Tisch mit Putin setzen, um zu verhandeln, ist sinnlos. Strategische Vereinbarungen wird er nicht einhalten. Und taktische Vereinbarungen, um irgendetwas zu erreichen, braucht er nicht. Wenn der Krieg gestoppt wird, dann entweder, weil sich beide Seiten festgefahren haben und keine Geländegewinne mehr machen. Oder wenn an der militärischen Kontaktlinie jemand postiert wird, so wie im Fall von Nord- und Südkorea. Aber diesen jemand gibt es derzeit nicht.
59, ist ein russischer Unternehmer, früherer Oligarch und Ex-Vorstandsvorsitzender des heute insolventen Ölkonzerns Yukos. Von 2003 bis 2013 saß er wegen Steuerhinterziehung und Betrugs in einem Straflager ein. Heute lebt er mit seiner Familie in London. In der vergangenen Woche war er in Berlin zu Gast. Vor Kurzem ist im Europa Verlag sein Buch „Wie man einen Drachen tötet. Handbuch für angehende Revolutionäre“ erschienen.
Wie beurteilen Sie das Vorgehen des Westens im Ukraine-Krieg?
Der Westen tut sich schwer mit seiner Bereitschaft, der Ukraine dabei zu helfen, sich zu verteidigen. Er trifft seine Entscheidungen ziemlich langsam. Die Folge ist, dass die westlichen Staaten immer zu spät kommen und damit eine Eskalation des Konflikts befördern, anstatt diesen zu ersticken. Anders gesagt: Wenn Sie damit anfangen, auf ein Feuer Sägespäne in einer großen Menge zu werfen, wird der Brand gelöscht. Wenn das jedoch immer nur in kleinen Portionen geschieht, züngeln die Flammen weiter. Dieses Problem ist bis jetzt nicht gelöst.
Wie sollte der Westen Ihrer Meinung nach agieren?
Einerseits geht es um eine Reindustrialisierung des Westens. Die gegenwärtige militärische Situation hat gezeigt, dass die Abkehr des Westen von der Rüstungsindustrie ziemlich fatal war. Das wird sich wohl ändern, und das wäre eine weise Entscheidung. Der Westen muss sich aber auch von seinen roten Linien verabschieden. Ich meine damit eine schnelle Lieferung auch von Kampfflugzeugen sowie eine entsprechende Ausbildung von Piloten. Nur so wird die Ukraine in der Lage sein, den Fortgang des Krieges zu drehen.
Wenn das nicht passiert und weiter eine Million Granaten jährlich geliefert wird, die andere Seite aber zehn Millionen hat, werden die Probleme nicht gelöst werden. Der Westen muss für sich entscheiden: Wenn er will, dass die Ukraine nicht verliert, muss er jetzt innehalten und Kyjiw nicht zu einer selbstmörderischen Offensive drängen. Wenn der Westen will, dass die Ukraine den Krieg gewinnt, müssen Waffen in dem dafür erforderlichen Umfang geliefert werden.
Werfen wir einen Blick nach Russland. Am 17. April wurde der Kremlkritiker Wladimir Kara-Mursa zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Der Staatsanwalt hat ihn als Feind bezeichnet. Manche fühlen sich an den Stalinismus erinnert. Gehen Sie da mit?
Ideologisch erinnert das an die Zeiten Stalins. Aber trotzdem gibt es Unterschiede. Ich meine damit sowohl den Umfang der Strafen als auch den Grad der Hysterie in der russischen Gesellschaft. Die heutige Gesellschaft ist nicht in so einem hysterischen Zustand wie damals die sowjetische. Nichtsdestotrotz fühlt man sich an die Zeit unter Stalin erinnert. Doch wir müssen eins verstehen: Je länger sich der Krieg hinzieht, desto stärker wächst in Russland der Anteil derer, die dafür sind. Denn die Zahl der Getöteten ist noch nicht so hoch, als dass sich jede/r direkt von dem Tod bedroht fühlen würde. Dieses Gefühl, sich für die Getöteten rächen zu wollen, existiert und es wird stärker werden. Klar jedoch ist: Wenn dieser Krieg mit einem massiven Gegenschlag schon vor einem Jahr beendet worden wäre, hätte die russische Gesellschaft das leichter hingenommen als heute.
Wird der Druck auf Regimekritiker*innen noch weiter zunehmen?
Wir nähern uns schon jetzt Strafen an, die auch zu Zeiten Stalins verhängt wurden. In naher Zukunft werden Personen häufiger zu lebenslanger Haft verurteilt werden. Da sind die Bedingungen noch viel härter als für andere Gefangene. Dem wird der Verzicht auf das Moratorium über die Todesstrafe folgen.
Viele fragen sich, welche Rolle der Chef der Söldner-Truppe Wagner, Prigoschin, spielt. Deuten seine Äußerungen auf eine Machtkampf innerhalb von Putins Umfeld hin oder provoziert er nur?
Das, was wir sehen, ist eine für dieses System traditionelle Balance innerhalb der Gruppe von Leuten, die Putin umgeben. Die gehen immer mal wieder aufeinander los, das ist für Putin eine Art Modus Operandi.
Wie ist der Zustand der russischen Opposition?
Über den Krieg gegen die Ukraine ist sich die demokratische Opposition einig. Natürlich gibt es da auch einige radikale Vertreter*innen, die sich für terroristische Aktionen auf den Straßen russischer Städte aussprechen, aber gleichzeitig gegen jedwede Sanktionen sind. Aber das sind marginale Gruppen. Die Mehrheit, die auch in der Antikriegsbewegung organisiert ist, vertritt folgende Positionen: Dieser Krieg ist aggressiv, das Regime, das ihn begonnen hat, ist verbrecherisch, und was die Ukraine angeht, müssen wir zu den Grenzen von 1991 zurückkehren. Uns stellen sich drei Aufgaben: antipropagandistische Arbeit, die auf die Gesellschaft in Russland zielt; Hilfe für Menschen aus Russland, die gezwungen sind, vor diesem Regime zu fliehen; und als Drittes die Vorbereitung derer, die geflohen, aber bereit sind, nach Russland zurückzugehen, um dort an Veränderungen mitzuwirken.
Welche Rolle spielt Alexei Nawalny in diesem Kontext?
Was Nawalny persönlich angeht, so ist das schwer zu sagen, er spielt wohl eher eine symbolische Rolle. Seine Gruppe hingegen ist sehr wichtig, sie hat jedoch ein Problem. Hier herrscht die Meinung vor, sich mit niemanden zusammenschließen zu wollen. Ich hoffe, dass die Betreffenden diese Position überdenken.
Sie haben zehn Jahre in einem russischen Straflager gesessen. Wie blicken Sie heute auf Putin?
Als ich aus der Haft kam, war Putin für mich ein politischer Gegner. Was unsere Beziehung angeht, waren wir nicht bis zum Äußersten gegangen. Nach meiner Entlassung haben wir einander in Ruhe gelassen. Das änderte sich, als die ersten Bomben auf Charkiw fielen. Da lebt ein Teil meiner Verwandten, die Stadt ist mir vertraut. In den ersten Tagen war ich hysterisch. Ich konnte nicht ertragen, das mit anzusehen. Meine Beziehung zu Putin ist zerbrochen. Ich betrachte ihn als Feind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Israelis wandern nach Italien aus
Das Tal, wo Frieden wohnt