Michael Frensch über Anthroposophie: „Als Anhänger verlieren Sie Ihre Freiheit“
Verleger Michael Frensch wurde in den 1968ern vom Atheisten zum Anthroposophen. Inzwischen hat er sich mit ihnen überworfen: wegen eines estnischen Mystikers
taz: Herr Frensch, sind Sie Anthroposoph oder Christ?
Michael Frensch: Es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen Anthroposophie und Christentum. Anthroposophie-Begründer Rudolf Steiner legte Wert darauf, dass sich seine Lehre auf das Christentum gründet. Ich selbst bin erst durch die Anthroposophie wieder zum Christentum gekommen.
Wie kam das?
Da muss ich etwas ausholen. Ich bin ein echter 1968er. Habe an der Uni Frankfurt und dann in München studiert und war bald überzeugt von Feuerbachs Thesen über Religion und Christentum. Wurde dadurch Atheist und betrachtete Religion als Opium fürs Volk. Bis ich, 28-jährig, der Lehre Steiners begegnete. Ich war sofort angesprochen.
67, leitet seit 1998 den Novalis-Verlag und hat Bücher über philosophische, kunsthistorische und geisteswissenschaftliche Themen veröffentlicht, zuletzt „Ein Freund von jenseits des Grabes. Meine Begegnung mit Valentin Tomberg“. Seit 2002 lebt er in Neukirchen an der Flensburger Förde.
Wovon genau?
Er machte geltend, dass er ein Gebiet erforschen könne, das Menschen normalerweise verschlossen ist. Er sagte: „Wenn ich in meiner Weise forsche, komme ich in ein Gebiet, das ich die übersinnliche Welt nenne.“ Um dahin zu gelangen, musste er zunächst glauben, dass das möglich ist. Später, so hat er mitgeteilt, habe er es wirklich erfahren. Er habe im Gedächtnis der Welt gelesen, das die Inder Akasha-Chronik nennen.
Was ist das?
Eine unsichtbare große Festplatte, auf der alle Ereignisse, die in de Welt von Anfang an je stattfanden, gespeichert sind. Allerdings ist diese Festplatte nicht wirklich fest, sondern eher eine sehr lebendige prägbare Substanz.
Wer speichert da etwas ab?
Die Akasha wird von zwei Seiten beschriftet: Hier unten von uns, und von „oben“ durch die geistige Welt. Diese Substanz speichert alles, was passiert. Steiner beansprucht, dort das Christus-Leben und -Wirken auf der Erde gefunden zu haben – also das Christentum als historische Tatsache, neben Buddhismus, Judentum, Islam. Allerdings war für ihn, im Unterschied zu den anderen Religionsgründungen, das Christus-Ereignis der sinnstiftende Mittelpunkt für die gesamte Welt- und Menschheitsentwicklung. Dadurch gibt es ein Davor und Danach.
Diese Thesen kann niemand überprüfen.
Steiner meinte, man könne. Er war sicher, dass man zu dieser Chronik Zugang bekommt, wenn man einen bestimmten Weg geht – den „Schulungsweg“.
Wie weit sind Sie auf diesem Weg?
So weit, dass ich Ihnen sagen kann: Es gibt eine solche Realität, die Sie nicht mit den physischen Sinnen erreichen und trotzdem erfahren können. Aber Sie können ihr Sinnesvermögen erweitern.
Wie funktioniert das?
Mit entsprechend konsequentem Üben, wozu auch Trial and Error gehören, das macht bescheiden. Vor allem müssen Sie ausschließen können, dass Sie nur sehen, was Sie sehen wollen. Das ist schwer. Aber nur dann können Sie sicher sein, dass Sie objektiv etwas wahrnehmen.
Parallel haben Sie damals in Philosophie promoviert. Eine brotlose Kunst.
Das dachte ich auch. Aber dann traten Dinge ein, die allein durch unsere physische Welt nicht mehr erklärlich sind.
Zum Beispiel?
Als ich für meine erste Stelle in einem anthroposophischen Verlag kurzfristig ein Zimmer in Freiburg brauchte, hatte ich einen Traum, in dem mir jemand zurief: Geh nach Kirchzarten auf die Bürgermeisterei, dort wirst du ein Zimmer finden! Ich wohnte damals in Basel und dachte: 90 Kilometer zu fahren auf einen Traum hin – das kann teuer werden. Aber ich wagte es. Und nachdem man mich erst abgewimmelt hatte, rief in letzter Minute eine Verwaltungsmitarbeiterin, sie habe ein Zimmer für mich.
Reiner Zufall.
Ja, das denkt man, und Sie können jetzt natürlich sagen, ich reime mir da etwas zusammen. Aber es ging so weiter: Botschaften kamen nach dem Aufwachen oder im Traum. Mein Leben formte sich und bekam Sinn.
Welche Rolle spielte Ihre Sophien-Stiftung?
Die haben meine Frau und ich später im bayerischen Kinsau gemeinsam mit Freunden gegründet. Einerseits sollte sie geisteswissenschaftliche Forschungen unterstützen und andererseits Menschen in Not helfen. Wir dachten: Im Mittelalter gab es Klöster, wo jeder anklopfen konnte. Man gab diesen Menschen Suppe oder geistigen Rat. Die patriarchalische Gesellschaft von damals muss man nicht wiederholen, aber die Idee ist gut. Wir waren zehn, zeitweise zwölf Erwachsene, haben einen Bauernhof umgebaut und boten denjenigen, die durchs soziale Netz fielen, eine Anlaufstelle.
War es eine Art SOS-Kinderdorf?
Eher ein Pflegefamilien-Modell. Wir haben vom Landkreis vermittelte „Problem“-Jugendliche in die Familien und notleidende Erwachsene in unsere Gemeinschaft aufgenommen. Auch bei uns zu Hause wohnten eine Zeitlang zwei, drei Jugendliche.
Julia, die erste Ihrer zwei schwerstbehinderten Töchter, war da schon geboren.
Ja, und sie wirkte auf ihre Weise mit, sozusagen als Miterzieherin. Die „schwierigen“ Jugendlichen wurden weich, wenn sie sie sahen.
Immer?
Eigentlich schon. Aber einmal ist ein erwachsener Betreuter entgleist, weil er seine Medikamente nicht regelmäßig nahm und plötzlich ein Messer in der Hand hatte. Da mussten wir eingreifen und ihn in die Psychiatrie zurückbringen.
Julia starb als Achtjährige. Was war sie für ein Kind?
Ein sehr besonderes, und dazu gibt es wieder eine Geschichte. Als meine Frau im fünften Monat war, erfuhr ich im Traum, dass ein bestimmter Mensch kommen würde. Ich fuhr im Traum das Familienauto mit meiner Frau und den beiden damals schon geborenen nicht behinderten Kindern darin. Ich fragte mich, wie ich mit meinem Nonkonformismus meine Familie ernähren sollte. Plötzlich merkte ich, dass das Auto auch ohne mein Zutun in die richtige Richtung fuhr. Ich ließ das Steuer los, drehte mich um und sah: Da ist ein Mensch, der hält noch ein Steuerrad in meinem Rücken. Als Julia dann geboren wurde, wusste ich sofort: Sie ist dieser Mensch.
Inwiefern hielt Julia im realen Leben das Steuer in der Hand?
Durch ihr Schicksal wurden viele Begegnungen möglich, die es sonst nicht gegeben hätte – mit Therapeuten, Ärzten und Menschen, die sich für sie interessierten. Dabei war Julia seit ihrem zweiten Lebensjahr blind und total bewegungsunfähig: Ihre einzigen Regungen waren BNS-Krämpfe, eine Art epileptische Anfälle. Ansonsten konnten wir nur an einem Schmatzen erkennen, was sie gerade erlebte und wie es ihr ging. Aber Julia hat uns viele Türen geöffnet und durch die Blinden- und Sozialrente unsere finanzielle Situation verbessert.
Drei Jahre vor Julias Tod wurde Anna geboren, nach einem Sturz gleichfalls schwerbehindert.
Ja. Julia hatte mir im Traum gesagt, dass noch jemand käme, der uns weiterhelfen würde. Sie zeigte mir einen Menschen, der schweigend einfach nur dasaß mit strahlend blauen Augen. Das war Anna. Sie saß im Rollstuhl, sprach nie und hatte blaue Augen. Sie hat wie ein Verbindung-schaffender Mensch gewirkt. Wer ihr näher kam, war von ihr tief berührt, obwohl sie äußerlich total hilflos war. Ihretwegen sind wir auch in die Nähe von Flensburg gezogen.
1.000 Kilometer von Ihrem damaligen Wohnort entfernt. Warum?
Unser damaliges Haus bei Schaffhausen war nicht rollstuhlgerecht, wir hätten massiv umbauen müssen. Im Süden fanden wir nichts Geeignetes, und dann sagten uns Freunde, die an der Flensburger Förde wohnten, dass es neben ihrem gerade im Entstehen begriffenen homöopathischen Zentrum ein barrierefreies Haus am Meer gäbe.
Fiel es Ihnen nicht schwer, ihre Freunde zurückzulassen?
Schon, aber Anna hat uns sozusagen klargemacht: Dort geht es nicht weiter. Und man muss wach für den Moment sein, wenn etwas zu Ende ist.
Was tun Sie jetzt in Flensburg?
Meine Frau und ich haben den Novalis-Verlag aus dem Süden mitgebracht, einen seit über 70 Jahren bestehenden Nischenverlag, der viel Anthroposophisches verlegt, aber nicht ausschließlich. Außerdem haben wir unsere Deutsch-Schweizer Sophienstiftung in die deutsche Anna-Sophien-Stiftung umgewandelt.
Sie wurde ergänzt um den Namen Ihrer 23-jährig verstorbenen behinderten Tochter Anna.
Ja, durch ein gestiftetes Erbe von Anna wurde die Sophienstiftung erweitert, und das kommt im Namen zum Ausdruck. Dabei ist ein neues Ziel hinzugekommen: Menschen in vergleichbarer Situation zu beraten oder sie weiterzuvermitteln. Zudem betreut die Stiftung seit einem Jahr ein Archiv über den 1973 verstorbenen Valentin Tomberg. Ich habe sein Hauptwerk „Meditationen über die 22 Großen Arkanas des Tarot“ aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt und gemeinsam mit Elisabeth Heckmann eine große Biographie über ihn verfasst.
Wer war Valentin Tomberg?
Ein in St. Petersburg geborener Este, dessen Familie 1917 vor der Russischen Revolution nach Estland floh. Er begegnete früh der Anthroposophie und war sofort überzeugt, dass es die geistige Welt nicht nur gibt, sondern dass man sie auch erforschen kann. Aber er wusste auch: Die Ergebnisse sind keine im üblichen Sinne wissenschaftlich beweisbaren, sondern innere Gewissheiten.
Stimmt es, dass Sie sich seinetwegen mit den organisierten Anthroposophen überwarfen?
Ja, denn sie beschränken sich bis heute fast ausschließlich auf Mitteilungen Steiners. Zudem hatte sich Tomberg später mit der katholischen Kirche verbunden. Und die ist für die anthroposophische Gesellschaft ein schwieriges Kapitel.
Warum?
Weil sich die Anthroposophische Gesellschaft als fortentwickeltes Christentum versteht. Die katholische Kirche gilt dort als veraltete Form. Und wenn Sie über jemanden schreiben, der sich dezidiert in die Kirche stellt und zugleich übersinnliche Forschungen betreibt und mitteilt, entsteht ein Konkurrenzproblem. Schon deshalb hatte ich in der Anthroposophischen Gesellschaft in den 1990er-Jahren keinen leichten Stand.
Sind Sie noch Mitglied?
Nein. ich bin Ende 2004 ausgetreten.
Würden Sie sich eigentlich als Tomberg-Anhänger bezeichnen?
Weder als Anhänger von Steiner noch von Tomberg. Wenn Sie Anhänger werden, verlieren Sie, was Sie brauchen, um klare Erkenntnisse zu erzielen: Ihre individuelle Freiheit.
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