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Micha Brumlik über die AsylrechtsdebatteSchreibtischtäter

Kommentar von

Micha Brumlik

Politiker aller Parteien, die die Asyldebatte führten und führen, sind für die drei Toten von Mölln mitverantwortlich.

Das von Neonazis angezündete Haus, in dem drei Geflüchtete durch die Flammen starben Foto: Christian Eggers/AP/dapd

D ieser Text erschien erstmals am 30.11.1992 in der taz. Wir haben ihn aus Anlass des Todes von Micha Brumlik erneut publiziert.

In Mölln wurde ein Brandanschlag verübt. In Mölln starb angeblich im Jahr 1350 der Schalk Till Eulenspiegel an der Pest. In seiner Gestalt verbinden sich ungebremster Hohn, antibürgerliches Ressentiment und die eigentümliche Lust an der Erniedrigung anderer zu einem brisanten Gemisch. Diesem Geist, wahrscheinlich von einem Trupp Neonazis exekutiert, sind drei Menschen zum Opfer gefallen.

Micha Brumlik und die taz

Micha Brumlik war Erziehungswissenschaftler, Publizist und seit 1987 auch pointierter taz-Autor. Zehn Jahre lang war er auch fester Kolumnist der taz-Kultur. Er war Professor für Theorien der Bildung und Erziehung in Frankfurt/Main und dort von 2000 bis 2005 auch Direktor des Fritz Bauer Instituts – Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust. Am 10. November 2025 ist er wenige Tage nach seinem 78. Geburtstag gestorben. Einen Nachruf findet sie hier. Aus Anlass seines Todes präsentieren wir unter taz.de/MichaBrumlik folgende Auswahl seiner Texte.

Der russische Faschist Alexander Dugin: Der Philosoph hinter Putin (2022) Brumliks viel gelesener Text über den russischen Fasschismus

Kolumne Gott und die Welt: Frühling, Zeit für Adorno (2017) Eine von Brumliks regelmäßig für die taz-Kultur-Seiten geschriebene Kolumne, hier über Adorno und den Frühling.

Kolumne Gott und die Welt: Was nach dem Scheitern (2015) Eine weitere Kolumne von Brumlik darüber, wie jüdisch '68 und der Pariser Mai waren. Das ist auch seine eigene Prägung und Geschichte.

Asylrechtsdebatte und der Anschlag in Mölln: Schreibtischtäter (1992) Politiker aller Parteien, die die Asyldebatte führten und führen, sind für die drei Toten von Mölln mitverantwortlich, so wie die Bild verantworlich für den Tod von Rudi Dutschke war, schrieb Brumlik in diesem wütenden Kommentar nach dem rassistischen Brandanschlag mit 6 Toten.

Asylrechtsdebatte 1992: Laßt uns mit Anstand von der Bühne deutscher Nachkriegsgeschichte gehen (1992) Ein wütender Gastkommentar in der Asylrechtsdebatte 1992, in dem er die zerstrittetenen bundesdeutschen Intelektuellen zum gemeinsamen Protest ruft.

Fassbenders „Der Müll, die Stadt und der Tod“: Krankfurt–Ballade in Manhattan (1987) In seinem allerersten Text für die taz schrieb Brumlik über das gerade in New York uraufgeführte Theathestrück des Regisseurs Fassbender.

Wer vor solchen Ereignissen gewarnt hat, wurde bisher belächelt oder der Hysterie geziehen. Dennoch sind der hilflosen Sehnsucht nach der Mitte und einem nur noch als kontraphobisch einzustufenden „Antialarmismus“ zum Trotz – schon der historischen Redlichkeit wegen – einige Klarstellungen unerläßlich. Das Gedenken, das zumal im November oft genug zur rituellen Hülle verkommen ist, fordert heute und im Blick auf die Zukunft Genauigkeit. Daher:

Politiker aller Parteien, die die Asyldebatte führten und führen, sind in genau dem Sinne, in dem einst die Hetzjournalisten der Bild-Zeitung am Attentat auf Rudi Dutschke schuld waren, für die Toten von Mölln verantwortlich.

Erstens sind heute Politiker aller Parteien, die die Asyldebatte führten und führen, in genau dem Sinne, in dem einst die Hetzjournalisten der Bild-Zeitung am Attentat auf Rudi Dutschke schuld waren, für die Toten von Mölln verantwortlich.

Zweitens: Wenn jemals der Begriff „Schreibtischtäter“ in der Geschichte Westdeutschlands auf eine Person zutrifft, dann auf den heutigen Verteidigungsminister Volker Rühe, der im September 1991 als CDU-Generalsekretär mit einem Asyldebattenerlaß die Lawine der Gewalt losgetreten hat.

Drittens: Daß Helmut Kohl und Björn Engholm die Trauerfeier in der türkischen Moschee zu Hamburg mieden, ist ein Skandal eigenen Ranges. Politik besteht auch in symbolischen Handlungen – die Solidarität der Menschen untereinander angesichts des Todes muß, wenn sie denn ernst gemeint ist, auch öffentlich und feierlich gezeigt werden. Genau genommen hätte es der Bundesregierung, wenn sie das, wofür sie in Berlin vergeblich demonstriert hat, ernst meinte, angestanden, Bahide Arslan sowie den beiden Mädchen Ayshe und Yeliz einen Staatsakt auszurichten.

Wer sich verteidigt, so heißt es, klagt sich an – wer einem Begräbnis fernbleibt, deutet auf sich. Helmut Kohl und Björn Engholm aber waren bei der Trauerfeier in Hamburg nicht zugegen. Diese Unterlassung wird auch nicht dadurch getilgt, daß Engholm mit ein paar Politikern Tage zuvor den Gatten der verbrannten türkischen Frau besuchte. Bei Trauerfällen ist es in der politischen Klasse allemal üblich, Terminpläne umzudisponieren.

So bleibt schließlich festzustellen, daß die „Herstellung der inneren Souveränität“ – wie etwa Udo Knapp die Asyldebatte zu nennen beliebt – in diesem Jahr bisher sechzehn Menschenleben gefordert hat und daß die Urkunde der großen Koalition, die jetzt geschrieben wird, mit der Asche dreier toter Türkinnen besiegelt ist.

„Und wenn ein Fremdling/Als Gast im Haus einkehrt/Grüße man ihn mit Ehrfurcht…“, heißt es in der Tragödie „Die Eumeniden“ – des Dichters Aischylos Beitrag zur Gründungsproblematik von Staatswesen. Anders aber als das Athen der Tragödie ist der neue deutsche Staat zu einem Akt der Versöhnung nicht in der Lage.

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