: „Der Klimawandel ist definitiv in Mitteleuropa angekommen“
Das Jahr 2023 hat viel zu warm angefangen, sagt der Meteorologe Florian Imbery. Ein Interview über Deutschland in der Klimakrise
Interview Susanne Schwarz
taz: Herr Imbery, an manchen Orten in Deutschland herrschten zu Silvester und Neujahr 20 Grad – startet 2023 mit einer Hitzewelle?
Florian Imbery: Wir kennen ja den Begriff Hitzewelle im Winter eigentlich nicht, aber in dem Fall stimmt er. Wir sind zum Jahreswechsel mit Temperaturen gestartet, wie wir sie in Deutschland und ganz Mitteleuropa einfach noch nie erlebt haben. Das ist sehr, sehr außergewöhnlich. Es hat jetzt ein bisschen abgenommen, aber trotzdem. Übrigens fallen nicht nur diese unglaublich hohen Maximumtemperaturen bis 20 Grad auf – in der Silvesternacht ging die Temperatur teilweise nur auf 15 Grad hinunter. Das sind Minimumtemperaturen, die im Hochsommer okay sind. Für Dezember und Januar ist das eigentlich unvorstellbar. Das gab es noch nie.
Im Dezember gab es auch ein paar kalte Tage, aber für das Jahr 2022 war das nicht exemplarisch, oder?
Nein, auf keinen Fall. Das Gebietsmittel der Temperatur lag in Deutschland bei 10,5 Grad. Damit ist 2022 gemeinsam mit 2018 das wärmste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Alle Monate waren wärmer als im vieljährigen Durchschnitt von 1961 bis 1990, teilweise um mehr als 3 Grad. Das ist sehr viel. Ausgesprochen heiß war zum Beispiel der August.
Nach einer Schätzung des Robert-Koch-Instituts gab es im Sommer in Deutschland etwa 4.500 Hitzetote. Wie extrem war die Sommerhitze aus meteorologischer Sicht?
Die war sehr außergewöhnlich, auf mehreren Ebenen. Erst mal war der Sommer prinzipiell sehr warm. Es gab nur zwei Sommer mit höheren Durchschnittstemperaturen: 2003 und 2018. 2019 war es ähnlich warm wie letztes Jahr. Und zweitens hatten wir zwei intensive Hitzewellen, die europaweit auch völlig neue Rekorde gebracht haben. In Deutschland wurden an mehreren Wetterstationen 40 Grad oder mehr gemessen. Das ist immer noch die Ausnahme, Gott sei Dank, aber es wird immer häufiger.
Für Großbritannien haben Wissenschaftler:innen die extremen Temperaturen nach einer Studie mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht, mit dem Ergebnis, er habe sie 10-mal wahrscheinlicher gemacht.
Ja, in Großbritannien wurden erstmals die 40 Grad geknackt, im Ort Coningsby waren es 40,3 Grad. Am selben Tag haben wir übrigens in Hamburg 40,2 Grad gemessen. Das liegt noch mal ein Stück nördlicher als Coningsby. Ich habe damals extra nachgeguckt und glaube nicht, dass so weit im Norden Europas schon mal 40 Grad gemessen wurden. Das ist extrem außergewöhnlich.
2022 war also in Deutschland sehr heiß, wie sah es denn beim Niederschlag aus?
Im Februar hatten wir noch recht hohe Niederschlagsmengen in ganz Deutschland. Damit konnten die Defizite in der Bodenfeuchte und im Grundwasser aus dem Jahr zuvor gut ausgeglichen werden. Danach waren aber alle Monate bis auf den September zu trocken, teilweise bedeutend zu trocken. Die Kombination aus den hohen Temperaturen und den sehr niedrigen Niederschlägen hatte viele Konsequenzen, zum Beispiel für Land- und Forstwirtschaft. Wir hatten noch nie so viele Waldbrände wie 2022. Die Binnenschifffahrt war zwischenzeitlich eingeschränkt, weil die Flüsse zu wenig Wasser hatten. Das war ja auch eine Situation, die wir nicht nur in Deutschland hatten, sondern europaweit. In Frankreich mussten Dutzende Atomkraftwerke abgeschaltet werden, weil es nicht genügend Kühlwasser gab.
Wie haben sich die Durchschnittstemperaturen in Deutschland über die Jahre entwickelt?
Es gibt eine deutliche Steigerung. Der Deutsche Wetterdienst kann Auswertungen ab 1881 machen, seitdem gibt es flächendeckend ausreichend Wetterstationen. In diesem Zeitraum hat sich die Temperatur im Durchschnitt um 1,7 Grad erhöht. Im vergangenen Jahr hatten wir noch von 1,6 Grad gesprochen, das Jahr 2022 hat den Wert noch mal hochgetrieben.
Florian Imbery, Jahrgang 1966, ist promovierter Meteorologe und Klimaexperte beim Deutschen Wetterdienst.
Global spricht man bisher von etwa 1,2 Grad Erderhitzung. Das heißt, Deutschland heizt sich schneller auf als der Durchschnitt?
Ja, aber man muss genau hinschauen. Die globalen Datensätze enthalten auch die Temperaturen über den Ozeanen. Die steigen langsamer, unter anderem, weil die Ozeane die empfangene Wärme sehr effektiv in tiefere Schichten mischen. Wenn man sich nur die globalen Landmassen anschaut, entspricht das Niveau von Erwärmung dem, das wir in Deutschland sehen.
Es gab gerade eine Berechnung des Thinktanks Agora Energiewende, nach der die CO2-Emissionen der deutschen Energiewirtschaft 2022 erstmals seit Langem wieder gestiegen sind. Wenn Sie das hören, wie fühlen Sie sich da?
Wie soll ich das sagen? Die Klimakrise schreitet noch schneller voran, als das viele Klimamodelle projiziert haben. Wir erleben jetzt schon das Wetter, das wir erst für die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts erwartet haben. Der Klimawandel ist definitiv auch in Mitteleuropa angekommen, mit allen Konsequenzen. Die Motivation, die Emissionen auf null herunterzufahren, müsste eigentlich so groß sein wie nie zuvor. Mir ist natürlich klar, dass der russische Angriff auf die Ukraine in diesen Werten drinsteckt. Es stellt sich jetzt die Frage, wie sich Deutschland, Europa und die ganze Welt in dieser neuen Situation aufstellen. Gut anfühlen tut sich das auf jeden Fall nicht.
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