Merkwürdige Idee von Demokratie: Die Briten und die Europawahl
Briten finden das europäische Parlament undemokratisch und würden deswegen am liebsten nicht bei der Europawahl wählen. Wie albern.
Jetzt wählen die Briten also doch Abgeordnete für das Europaparlament. Tun sie einem nicht furchtbar leid? Die armen Briten würden eigentlich lieber auf dieses demokratische Recht verzichten – weil sie das europäische Parlament voll undemokratisch finden.
Als Britin, die seit 2000 in Deutschland lebt, habe ich die Schnauze voll, mir Reden über Demokratie anhören. Es sind Demokratiereden von Menschen, die immer noch eine Königin haben, die wie mit einem magischen, goldenen Stab die politische Macht an Abgeordnete abgibt. Von Menschen, die mitunter regiert werden vom nichtgewählten Oberhaus, dem sogenannten House of Lords.
Deren Mitglieder dürfen in diesem Haus nur deshalb sitzen, weil sie Ururururur-Enkelkinder irgendeines unehelichen Sohnes irgendeines toten Königs sind. Oder weil sie Kirchenvertreter sind. Nur manche von ihnen werden – oh wie modern – vom Premierminister ernannt.
Vor der Brexit-Wahl hat meine Tante mich gefragt: „Was hat die neoliberale EU jemals gemacht für die Ärmeren in Ostlondon?“ Ich war überrascht von ihrer Frage. Bis dahin dachte ich, dass die Hauptsünde der EU war, dass sie sich zu sehr einmischt: Bananen, Gurken, Menschenrechte, Fisch. Aber jetzt klang es fast so, als ob meine Tante sich danach sehnte, dass die EU eine sozialistische Befreiungsarmee schickt, um die britische Unterschicht von den Erniedrigungen des Kapitalismus zu befreien.
„Die EU ist zu neoliberal!“, sagen Menschen, die Suppenküchen für Alleinerziehende, flexible Arbeitsverträge für alle, Sanktionen für Krebskranke nicht nur okay, sondern befreiend finden. Der Brexit war, so wird uns Briten ständig gesagt, eine Protestwahl. Jetzt wählen die Briten wieder – doch diesmal Abgeordnete für den „undemokratisch-elitär-neoliberalen Kackhaufen“ in Brüssel.
Auf die Idee, aus Protest links zu wählen, kommen die armen Briten aber nicht. Wahrscheinlich werden sie eine Menge Brexiteers wählen. Die Wut der Briten – sie richtet sich nie gegen die Oberen, sie richtet sich gegen Europa.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen