Mentale Gesundheit in Pandemie: Zu depressiv zum Anziehen
Mit der anhaltenden Pandemie ist die Stimmung bei vielen gedrückt. Das sorgt auch für mehr Verständnis depressiven Menschen gegenüber.
Bist du wirklich depressiv oder einfach nur frustriert?“, fragte mich mein Nachbar, als ich neulich bei ihm vorbeischaute. Ich hätte gerade schreiben müssen, fühlte mich aber zu unruhig, um auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Egal wie still ich stand (oder saß), die Gedanken rannten in meinem Kopf um die Wette. Die Welt, wie sie da draußen gerade war, war mir zu viel, die dunkle Jahreszeit war mir zu viel, aber vor allem war ich mir selbst zu viel.
Da es gefühlt allen um mich herum gerade irgendwie schlecht geht, stimmte mich die Frage meines Nachbarn ernsthaft nachdenklich. Denn seit Corona ist die Antwort auf die Frage, die auch der Titel von Till Raethers Buch ist, arg verschwommen: „Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?“
Etwas Gutes hat das Ganze für uns Depressive: Seit der Pandemie scheinen mehr Menschen zu verstehen, wenn wir versuchen zu erklären, wie es sich anfühlt, depressiv zu sein. Dadurch wächst auch das Verständnis um die Erkrankung. Gleichzeitig ist es aber auch ein Warnsignal; denn das bedeutet schließlich auch, dass der Anteil derer, die zumindest an einer depressiven Episode erkranken, steigt.
Ärztliche Diagnose
Zum Verständnis: Die Diagnose Depression erfolgt durch eine*n (Fach- oder Haus-) Arzt/Ärztin oder eine*n Psychotherapeutin/en. Unterschieden wird hierzulande nach dem internationalen Klassifikationssystem ICD-10 (International Classification of Diseases) zwischen einer leichten, einer mittelgradigen und einer schweren depressiven Episode. Je nach Dauer, Intensität und Wiederkehr gibt es noch spezifischere Unterscheidungen, die wirklich nur jemand vom Fach treffen sollte. Wer unsicher ist, ob er in einer depressiven Episode steckt, kann aber einen Selbsttest auf der Webseite der Deutschen Depressionshilfe machen.
Den Begriff Episode finde ich irgendwie tröstend, weil er einen zeitlich abgesteckten Rahmen symbolisiert. Das nimmt dem Ganzen diesen Charakter der unveränderlichen Endlosigkeit, der die depressiven Gedanken häufig begleitet. „Traurigkeit und Sinnlosigkeit in allem, die Unfähigkeit, eine Hose anzuziehen, ans Telefon zu gehen, einen Stift zu halten“, so beschreibt Till Raether den Zustand in seinem Buch.
Nicht ans Telefon gehen zu wollen, können sicher viele Menschen nachvollziehen. Auch mit dem Nichtanziehen einer Hose dürften spätestens seit der Pandemie mehr Menschen Erfahrung gesammelt haben. Wenn einem aber beides absolut sinnlos scheint, man sich partout nicht mehr überwinden kann, allerspätestens dann wird es problematisch.
Ich trug eine Jeans, als ich bei meinem Nachbarn einkehrte. Vor die Tür hatte ich es aber nur mit Mühe geschafft. Wenn das Telefon klingelt, brauche ich inzwischen meist ein, zwei Atemzüge, um abzuheben. Ob ich schon wieder in einer depressiven Episode stecke, darüber sollte ich wohl dringend mit meinem Therapeuten sprechen – leider hat der gerade einen Corona-Impfdurchbruch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich