„Mental Health“-Diskurs: Die Welt ist zum Verrücktwerden

Natürlich geht's uns schlecht! Aber wie geht es besser? Individelle Psycho-Tipps aus dem Netz helfen selten. Sie privatisieren bloß das Politische.

Ein Mann sitzt in der Badewanne und seift sich ein

Um herauszufinden, was nicht stimmt, braucht maus keine Therapie. Sondern Apps und Schaumbäder! Foto: Jan Mika/PantherMedia/imago images

Jahreswechsel, Winter, Pandemie, Life: „Mentale Gesundheit“ ist kein saisonales Thema, unter diesem Namen jedoch definitiv ein Trend. Zwar wird „verrückt sein“ – und dies nicht zu verheimlichen – weiterhin stigmatisiert und mitunter sanktioniert, aber immer mehr Räumen wird maus mittlerweile eingeladen, darüber zu sprechen, dass es maus ab und zu auch mal schlecht geht.

Ob in Büchern, Zeitschriften, Podcasts, Sozialen Medien oder Talkshows, Menschen dürfen sich häufiger verletzlich zeigen und von ihrem Unwohlergehen berichten. Das ist erst mal begrüßenswert, aber der Diskurs um „Mental Health“ wird dann überwiegend doch eher anti-emanzipatorisch, individualistisch und neoliberal verhandelt. So entsteht der Eindruck, Kapitalismus sei nicht der Auslöser, sondern der Ausweg für den kollektiven Zustand der Antriebslosigkeit, des vernebelten Kopfs, der fehlenden Lebensfreude und Unruhe.

Der Markt kann das regeln: mit Meditations-Apps, Schaumbädern, Gewichtsdecken oder Retreats. Um herauszufinden, was mit maus nicht stimmt, benötigt es nicht mal eine langjährige Therapie. Früher gab es dubiose Persönlichkeitstests, heute Listicles und Infografiken auf Social Media. Der Infoslide Industrial Complex verkürzt nicht nur politische Diskurse, sondern auch den Weg zur Diagnose.

Chaos, Erschöpfung, Vergesslichkeit, Rastlosigkeit, Ungeduld, Impulsivität, Schwierigkeiten in der Schule und mangelnde Konzentration haben natürlich nichts mit neun Stunden Bildschirmzeit auf TikTok, dem Schulsystem und dem Leben im Kapitalismus zu tun – sondern sind Zeichen, dass maus ADHS hat.

Baby, ich versuche nur zu heilen!

Eine Selbstdiagnose als Ausrede zu nutzen, sich Freund_innen gegenüber daneben zu verhalten, ist eine Sache. Begriffe aus der Psychologie und insbesondere aus der Traumaforschung aufzugreifen, um Kritik von sich zu weisen, eine andere. Baby, ich versuche nur zu heilen, du hast mich halt getriggert, wir haben scheinbar unterschiedliche Grenzen! Was online zynisch als „Tenderqueer“-Vokabular bezeichnet wird, ist eine perfide Art, andere zu manipulieren, um nie Verantwortung für das eigene Verhalten übernehmen zu müssen. Leute lesen drei Infotafeln und denken, sie haben neun Jahre Therapeut_innenausbildung.

Durch die Selbstpathologisierung und Individualisierung psychischer Probleme wird das Politische zum Privaten verklärt. Natürlich geht es uns schlecht. Mag sein, dass chemische Ungleichgewichte im Gehirn dabei eine Rolle spielen, doch wir können nicht nur die Biologie für strukturelle Zustände verantwortlich machen.

Ohne Psychiatrie- und Systemkritik ist die Debatte um „Mentale Gesundheit“ nichts wert. Individuelle Lösungen helfen vielleicht gegen Symptome, doch für die Ursachenbekämpfung braucht es gesellschaftliche Befreiung und nicht Tipps zum besseren Aushalten und Hinnehmen, dass die Welt, wie sie gerade ist, unseren Kopf so fickt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Hengameh Yaghoobifarah studierte Medienkulturwissenschaft und Skandinavistik an der Uni Freiburg und in Linköping. Heute arbeitet Yaghoobifarah als Autor_in, Redakteur_in und Referent_in zu Queerness, Feminismus, Antirassismus, Popkultur und Medienästhetik.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.