Menschenrechtler über Krieg in Äthiopien: „Wir sehen den Beginn von Hoffnung“
Äthiopiens wichtigster Menschenrechtler Daniel Bekele erhielt in Berlin den Deutschen Afrikapreis. Mit der taz sprach er über seine Arbeit.
Dieses Interview wurde am Tag der Preisverleihung an Daniel Bekele durch die Deutsche Afrika-Stiftung in Berlin am 18. November 2021 geführt. Die vollständige englische Originalfassung lesen Sie hier.
taz: Herr Daniel Bekele, Glückwunsch zum Deutschen Afrikapreis 2021. Ist es nicht ein unglücklicher Zeitpunkt, um einen Menschenrechtspreis nach Äthiopien zu vergeben?
Daniel Bekele: Ich fühle mich geehrt. Es ist für Äthiopien eine schwere Zeit, aber der Preis stellt auch eine Anerkennung von Menschenrechtlern dar, die in einer sehr schwierigen Lage versuchen, ihre Arbeit zu machen.
Wie beeinflusst die Lage Ihre Arbeit? In Äthiopien herrscht Ausnahmezustand, Kritik daran ist verboten. Ist das für Sie ein Problem?
Nicht direkt, denn die Beobachtung der Menschenrechtslage auch im Ausnahmezustand gehört zu unserem Mandat. Erst am Mittwoch äußerten wir menschenrechtliche Sorgen über eine Verhaftungswelle.
Daniel Bekele, 54, leitet seit 2019 Äthiopiens Menschenrechtskommission. Für seine Arbeit erhielt er am Donnerstag in Berlin den Afrikapreis 2021 der Deutschen Afrika Stiftung.
Da merkten Sie an, dass Sie nicht in der Lage waren, Informationen über Verhaftungen im Ausnahmezustand zu sammeln und darüber einen Bericht zu erstellen. Können Sie praktisch arbeiten?
In manchen Haftanstalten wird mit uns kooperiert, und wir erhalten Zugang. In anderen kooperiert das Sicherheitspersonal nicht mit uns. Aber das gibt es auch ohne Ausnahmezustand. Das Gesetz erlaubt uns ungehinderten Zugang. Manche Ordnungskräfte müssen das erst noch lernen.
Ihre Menschenrechtskommission EHRC hat gemeinsam mit der UN-Menschenrechtskommission den Tigray-Krieg untersucht. Der Bericht sorgte für Aufsehen, und es gab auch Kritik, die Regierung habe die Untersuchung beeinflusst. Stimmt das?
Das stimmt überhaupt nicht. Manche mögen meiner Kommission misstrauen, aber hoffentlich vertrauen sie der UNO, und die UNO hat dies nicht gemacht, um sich vom Staat beeinflussen zu lassen. Ich verstehe, wo Kritik herkommt, und wir sind dafür offen, aber es gab auch unfaire und falsche Anschuldigungen.
Gehen wir einige Anschuldigungen durch. Erstens: Ethnische Tigrayer wurden aus der Untersuchung ausgeschlossen …
Völlig falsch. Die EHRC hat keine ethnischen Tigrayer ausgeschlossen, es gab zwei im Team bis zum Schluss.
Zweitens: Sie konnten nur Orte aufsuchen, die Ihnen die Regierung erlaubte, also konnten Sie viele notwendige Orte nicht erreichen.
Das war eine der großen Einschränkungen des Berichts, und das steht da auch drin. Wir hatten eine Liste von Orten, aber wegen der Realität auf dem Terrain – nämlich des Rückzugs der Regierung aus Tigray – konnten wir in Teile Tigrays nicht hinein, da die TPLF die gemeinsame Untersuchung nicht akzeptierte. Das und die Sicherheitslage waren die Hauptgründe. Aber wir sprachen mit Vertriebenen aus diesen Gebieten. Der Bericht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber er gibt das Gesamtmuster wieder.
Die Ethiopian Human Rights Commission (EHRC) wurde 2000 gegründet und war damals lediglich auf dem Papier unabhängig.
Der profilierte Menschenrechtsaktivist Daniel Bekele führt die EHRC seit Juli 2019. Er war von 2005 bis 2008 politischer Häftling in Äthiopien und leitete von 2011 bis 2016 die Afrika-Abteilung von Human Rights Watch. Seine Übernahme der EHRC war Teil der Öffnungspolitik des damals frischen äthiopischen Reformpremiers Abiy Ahmed. Unter seiner Leitung hat die EHRC mehrere kritische Berichte über Äthiopiens Menschenrechtslage veröffentlicht. Er hat die Arbeit der EHRC professionalisiert, aber Kritiker halten ihn für zu regierungsnah.
Ein Bericht über Verbrechen im Tigray-Krieg, den die EHRC zusammen mit der UN-Menschenrechtskommission UNHRC recherchiert hatte, erschien Anfang November. Äthiopiens Regierung begrüßte den Bericht, die Tigray-Rebellen lehnen ihn ab.
Es gab Streit über die Kommunikation des Teams: Satellitentelefone wurden bestellt und dann nicht freigegeben.
Auch das war eine Einschränkung, die im Bericht steht. Die Teammitglieder brauchten Satellitentelefone zu ihrer Sicherheit in Gebieten, wo es kein Telefonnetz gibt. Aber die Regierung brauchte unnötig lange, um sie freizugeben, also bewegte sich das Team ohne diese Mittel. Das kompromittierte die Sicherheit unserer Mitarbeiter, aber zum Glück passierte nichts, und ihre Arbeit, also die Informationsgewinnung mit Opfern, Zeugen und Familien, wurde nicht beeinträchtigt.
Und noch eine Kritik: Opfer hätten nicht frei reden können, weil manchmal Sicherheitspersonal in Zivil das Team begleitete. Stimmt das?
Überhaupt nicht. Wir haben nie Interviews in Anwesenheit Dritter geführt. Das ist in jeder Menschenrechtsuntersuchung Standard. Es gab Leute von der EHRC und UNO, niemand sonst.
Was sollte nun aus dem Bericht folgen?
Ich hoffe auf drei Konsequenzen. Erstens: dass Täter zur Rechenschaft gezogen werden, auf allen Seiten. Ich würde mich freuen, wenn Regierungen, besonders die äthiopische, praktische Schritte wie vertiefte Strafermittlungen einleiteten. Zweitens: Wiedergutmachung für Opfer. Das Leben vieler Menschen ist völlig zerstört. Viele sagen uns immer wieder: Wir wollen unser Leben zurück. Sie haben ihr Eigentum verloren, ihre Nächsten, sie wurden vertrieben. Das ist sehr wichtig. Und zuletzt hoffe ich, dass der Bericht eine Grundlage für die Suche nach einer nachhaltigen Lösung des Problems darstellt. Es ist politisch und muss politisch gelöst werden.
Wie könnte eine nachhaltige Lösung aussehen?
Der erste Schritt wäre eine Einstellung der Kämpfe. Die Gewehre müssen schweigen, auf beiden Seiten. Dann braucht es vertrauensbildende Maßnahmen auf beiden Seiten. Alle Seiten werden Forderungen und Fragen haben, und man muss darüber einen Gesprächsprozess in Gang setzen. Aber zuerst müssen die Waffen schweigen, es muss ungehinderten humanitären Zugang geben, und die Menschen müssen zusammengebracht werden, um ihre Differenzen friedlich zu lösen.
Sehen Sie den Willen dazu bei den Konfliktparteien?
Es ermutigt mich, dass aufgrund der Bemühungen des Sonderbeauftragten der AU, mit denen der USA und EU im Hintergrund, beide Seiten zugestimmt haben, dass das Problem eine politische Lösung erfordert. Das übersetzt sich noch nicht in praktisches Handeln, aber ich glaube, dass wir den Beginn von Hoffnung in dieser Krise sehen.
Zugleich gibt es Hetze und Hassreden auf Regierungsseite gegen Tigrayer, was diese dazu bringt, von einem Völkermord zu sprechen, zumindest von seiner Vorbereitung. Was sagen Sie dazu?
Die gemeinsame Untersuchung hat zahlreiche Übergriffe identifiziert, darunter Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, aber nicht die rechtlichen und praktischen Elemente, die das Verbrechen des Völkermords ausmachen. Das ist ein Rechtsbegriff, und man muss damit vorsichtig umgehen. Leider verwenden viele in Äthiopien diesen Begriff. Fast jede ethnische Gruppe Äthiopiens würde Ihnen sagen, dass sie Opfer eines Völkermords ist. Sie denken, alle ethnischen Angriffe und Tötungen sind Völkermord. Aber die Rhetorik, von der Sie sprechen, macht mir Sorgen. Sie ist hetzerisch, auf allen Seiten. Wir haben alle Seiten, ihre Unterstützer und Medien aufgerufen, von Hassreden, Hetze und Entmenschlichung abzusehen. Es ist ein sehr polarisiertes, vergiftetes politisches Umfeld.
Hat sich Äthiopiens ethnische Polarisierung in den letzten Jahren verschlimmert?
Auf jeden Fall. Die ganze Idee, Äthiopiens politische Struktur nach Ethnien zu organisieren, hat die Gemeinschaften nach Ethnien geteilt. Diese Idee sollte historische Benachteiligung von Ethnien wiedergutmachen, aber sie hat mehr Probleme geschaffen als gelöst. Äthiopien braucht als Vielvölkerstaat ein föderales System, aber ob das auf Ethnien gründen muss, ist eine der großen Fragen, über die Äthiopier sprechen müssen. Denn es hat zu den Konflikten beigetragen.
Geht Premierminister Abiy Ahmed diese Probleme an? Oder gießt er Öl ins Feuer?
Ich hoffe, der Premierminister nimmt seine Verantwortung ernst. Dass er die Befunde unserer gemeinsamen Untersuchung positiv aufgenommen hat, ermutigt mich. Es ist das erste Mal, dass eine äthiopische Regierung positiv auf Menschenrechtskritik reagiert.
Sind Sie Optimist oder Pessimist zu Äthiopiens Zukunft?
Ich bleibe voller Hoffnung, trotz der deprimierenden Geschichten, die wir dokumentieren. Äthiopier sind die Ersten, die Opfern helfen, unabhängig von Ethnie. Sie nehmen Vertriebene auf, retten Nachbarn und Freunde auch bei schlimmen Massakern. Dieser traurige Krieg hat die Gesellschaft und menschliche Beziehungen zerrissen, und es wird lange dauern, die Wunden zu heilen. Aber ich glaube, es besteht noch Hoffnung für Äthiopien, diese schwere Zeit zu überwinden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus