Menschen und Isolation: Von Fledermäusen
Wir alle sind hochgezüchtete Säugetiere, deren Überleben vom Fortschritt der Naturwissenschaften abhängt.
W enn ich an meinem Schreibtisch sitze und aus dem Fenster schaue, sehe ich eine Kita und eine Schule. Das ist auch dieser Tage so. Der Unterschied besteht darin, dass dort, wo das Leben mit Händen zu greifen war, eine Stille den Raum in Besitz nimmt. Die Kastanien beginnen zu knospen. In wenigen Tagen werden die Gebäude vom Blattwerk verdeckt sein. Ohne Geräusch wird der Eindruck entstehen, als wäre die Schule verschwunden.
Vielleicht bedrückt mich die Leere. Aber gewiss in geringerem Maß als die Sorge um diejenigen, die mir nah sind. Die Stille, keine sonntägliche Ruhe, kein angenehm gedämpftes Leben während der Ferienzeit, markiert einen Übergang, von dem noch nicht klar ist, wohin er führt. Der Blick aufs Werden der Natur – ein Wachstum ähnlich dem im Vorjahr. Wir hingegen, komplexe Organismen, verharren wegen des Auftritts einer Mikrobe.
Meine Mutter hat mir von ihrer Quarantäne wegen des Verdachts auf Diphtherie erzählt. Lange wurde Scharlach auf diese Weise behandelt. In meiner Jugend erlebte ich, wie eine Mitschülerin während der Gelbsuchterkrankung über Wochen im Krankenhaus isoliert wurde. All das waren Einzelfälle.
Mit Anfang zwanzig habe ich mich mit der Frage auseinandergesetzt, wie es wäre, in Haft zu sein. Nicht für eine Nacht im Polizeigewahrsam, sondern wegen schwerem Landfriedensbruch für ein oder zwei Jahre in einer sogenannten Justizvollzugsanstalt. Ich habe mich gefragt, ob ich damit klarkäme und was ich in solch einer Situation des Einschlusses täte. Ich habe mich an die knapp zwei Monate erinnert, auf einem Tiroler Bergbauernhof, ohne einen Austausch jenseits von Floskeln.
Ich habe mich daran erinnert, wie intensiv ich nicht nur die Lektüre (Max Frisch) erlebt habe, sondern auch jeden beliebigen Märchenfilm im Vormittagsprogramm des ORF. Ich habe es mir nicht eingestehen wollen, aber in einem entlegenen Winkel meines Denkens wird mir bewusst gewesen sein, dass ich das Durchleben einer längeren Haftzeit nicht im Voraus ermessen kann.
Während dieser Tage der störenden Stille bin ich mit der Fahnenkorrektur meines neuen Romans beschäftigt. Eine Tätigkeit, die ich als angenehm und tröstlich empfinde. Der Roman ist geschrieben, die Korrektur ist kleinteilig und bannt dennoch mein Denken.
„Die Erfindung der Null“, der Titel, verweist auf verschiedene Aspekte, darunter den Zustand eines inneren Exils. Die Hauptperson, der ehemalige Mathematiker Dr. Gödeler, lebt mehr als zwei Jahrzehnte in der selbstgewählten Isolation einer Souterrainwohnung in Stuttgart. Er arbeitet als Nachhilfelehrer. Seine sozialen Kontakte tendieren gegen null. Obwohl er um die Gefahr weiß, bereitet es ihm Mühe, nicht zu verwahrlosen.
Sich aus der Lethargie mit Gewalt lösen
Am Tiefpunkt angekommen, kann er sich wie von fern beobachten, als untersuchte er eine fremde Spezies unterm Mikroskop, mit der nach Belieben zu verfahren er in der Lage sei. Es bedarf eines Gewaltakts, um die Lethargie zu lösen und ihn aus seinem muffigen Loch wieder in die Welt zu werfen, ihn aus der Quarantäne, in die er sich bugsiert hat, zu befreien. Momentan erleben wir die Rückkehr einer Realität, die zu ignorieren verbreitetes Bemühen war.
Das Virus stammt mit höchster Wahrscheinlichkeit von einem Wildtiermarkt in China, kein Einzelfall. Es hat uns infizieren können, weil Menschen Säugetiere sind. Dieser Umstand ist weder ein soziales noch sonst wie geartetes Konstrukt, sondern die uns bedingende Wirklichkeit. Sie ist vor-diskursiv. Sie war da, als es uns noch nicht gab. Sie wird da sein, wenn wir verschwinden.
Um sich in ihr und gegen sie zu behaupten, haben wir Verfahren entwickelt, die auf naturwissenschaftlicher Erkenntnis fußen. Ein solches Verfahren zu finden, ist das Gebot der Stunde.
Mit einem Mal treten Menschen in die Arena, die sich wohltuend von den mediokren Moderatoren und den oft genug peinlichen Politikern der allgegenwärtigen „Talk-Show“ unterscheiden. Weil sie kompetent sind. Weil sie wissen, dass moderne, und das heißt wirkmächtige, Medizin nichts mit den Schuppen des Schuppentiers oder sonst einem Aberglauben zu tun hat. Weil sie die Kehrseite der viel gefeierten „globalen Vernetzung“ kennen und deren Folgen, auch jenseits aller ökologischen Fragen, zu Recht fürchten.
Zurück zur Demut
Vielleicht wären wir klug beraten, zu einer Demut zurückzukehren, die darin besteht, das Phänomen zu akzeptieren und nicht dessen Interpretation den Vorrang einzuräumen. Die „chinesische Lösung“ maximaler Abschottung nicht zunächst als totalitär zu brandmarken, sondern als dem Problem adäquat.
ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Das Singen der Sirenen“ (Klett-Cotta Verlag). Sein neues Buch „Die Erfindung der Null“ liest er gerade Korrektur, es soll Ende Juli bei Klett-Cotta erscheinen.
Auf das italienische Gesundheitssystem, insbesondere das der Lombardei, nicht mit dem Finger zu zeigen, sondern zu begreifen, dass Oberitalien zufällig so hart getroffen worden ist und nun die Last für uns trägt.
Vielleicht sollten wir – wieder – begreifen, dass wir fragil sind, seltsam hochgezüchtete Säugetiere, deren Überleben zuallererst vom Erkenntnisfortschritt der Naturwissenschaften abhängt.
Denn die Quarantäne, in der wir uns befinden, ist möglicherweise nicht der momentane Zustand der maximalen Abschottung, sondern besteht in den Verhältnissen, die gerade ausgesetzt und die oft genug mit einer Isolation vorbehaltlosen Denkens verschränkt sind.
Wenn wir jedoch unsere herausragendste Eigenschaft als Menschheit suspendieren und stattdessen nach „der Krise“ weiterhin auf all die „Likes“ und „Talks“ und „Shows“ und was da noch so kreucht und fleucht stieren wie die blödesten Mikroben in irgendeiner Fledermaus, werden wir wohl noch häufiger durch den einen oder anderen Gewaltakt aus unserer Lethargie zurück in die Welt geprügelt werden.
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