Mensch und Internet: Kapern, was uns längst verwandelt hat
Wir sind Angestellte der Vektorialistenklasse, die unsere Daten zu Geld macht. Statt apokalyptischer Bros braucht es jetzt zarte Weichheit.
W enn ich aus dem Fenster schaue, denke ich manchmal: Hach wie schön, die Stadt sieht aus wie ein Foto eines Gemäldes einer Stadt. Wie komme ich auf so einen Scheiß? Warum langweilen mich viele Romane mit ihren linearen Narrativen? Warum flashen mich kurze Gedichte oder witzige Reels mehr? Warum fühle ich mich einsam, wenn mich mal zwei Stunden kein Screen anstarrt? Warum habe ich Angst vor Anrufen und finde es voll okay, mit vier Leuten gleichzeitig zu chatten? Da ist irgendetwas in mir.
Vielleicht bin ich im Begriff, etwas zu werden, das es noch nicht gibt. Ein Wesen, für das die Kategorien, in die ich hinein geboren wurde, nicht mehr existieren. Ich bin nicht, was meine Großeltern waren. Ich bestehe halb aus Fleisch und Knochen, halb aus Daten – und einem undefinierten Rest.
Das ist nicht ungewöhnlich, der menschliche Körper ist seit jeher Zerteilungen und Neuverbindungen ausgesetzt. Statt der Hand, die pflügt, ist es heute der Zeigefinger, der wütet. Nur, dass er potenziell tatsächlich überall sein kann.
Bei aller Liebe zum Digitalen kann das krass anstrengend sein. Der Markt ist überall. Er formt stets, wer ich, wo ich, wie ich, was ich bin. Ich arbeite am meisten, wenn ich nicht arbeite.
Ich bin quasi angestellt bei der Vektorialistenklasse, den neuen Kapitalisten, die Daten für Geld sammeln. Die von all meinen Klicks des Tages profitieren – und von den Informationen, die zu den Klicks geführt haben und unendlich kombinierbar sind: Metadaten. Sie enthalten alles, was ich je gelesen, gekauft, bewertet oder verschwiegen habe.
Die Wesen, die sie schaffen, sind halb persönlich, halb unpersönlich. Zusammengesetzt aus den Spuren, die ich hinterlasse und denen anderer, die ich absorbiere. Das Netz kennt mehr Leute, mit denen ich ein krudes Lieblingslied, ein Trauma oder einen Suchverlauf gemeinsam habe, als ich je im Leben berührt habe.
Ort, an dem etwas Neues beginnt
Ich könnte jetzt sagen: Schrecklich, ich will back to the roots. Ich will wieder mit meiner Oma spazieren, ohne ein Foto von den scheiß Veilchen am Wegesrand zu machen, um es mit einem Herzchen garniert hochzuladen. Oder Vögeln zuhören, ohne dass ich an Synthesizer denke.
Doch diese Idylle gab es ja nie. Vielleicht ist der undefinierte Rest in mir der Ort, an dem etwas Neues beginnt. Vielleicht ist es das, was Amy Ireland und Maya B. Kronic mit ihrem queer-futuristischen Buch „Cute Accelerationism“ vorschlagen. Ihre spekulative Theorie ersetzt apokalyptische Bro-Szenarien durch eine Philosophie der Weichheit und zarten Störung. Die Herzchen in unseren Fotos haben uns alle längst in niedliche Objekte verwandelt.
Sich hingeben, abgeben
Vielleicht geht es nicht darum, die Entwicklung aufzuhalten, sondern sie sich anzueignen. Sich hingeben, Teile von sich abgeben, sie in Glitzer tauchen.
Nicht aus Eskapismus, als subversive Praxis. Das Zarte ist nicht schwach, es feiert das Unreife, Queere. Es geht darum, zu kapern, was uns längst verwandelt – auch die neuen Wesen, die das System erzeugt und nicht einhegen kann.
Rede ich mir das nur ein, um mich nicht so lost zu fühlen? Doch was muss ich fühlen, um zu denken, was ich ahne? Ich schaue aus dem Fenster.
Es ist kalt. Ich strecke meine Arme aus, warte auf das sanfte Einprasseln der Metadaten.
Es fühlt sich an wie lauer Wind auf einem Foto von einem Gemälde am Meer.
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