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Mensch und InternetKapern, was uns längst verwandelt hat

Wir sind Angestellte der Vektorialistenklasse, die unsere Daten zu Geld macht. Statt apokalyptischer Bros braucht es jetzt zarte Weichheit.

Ist es Diebstahl, die eigenen Daten zu kapern? Foto: David Hecker/dapd

W enn ich aus dem Fenster schaue, denke ich manchmal: Hach wie schön, die Stadt sieht aus wie ein Foto eines Gemäldes einer Stadt. Wie komme ich auf so einen Scheiß? Warum langweilen mich viele Romane mit ihren linearen Narrativen? Warum flashen mich kurze Gedichte oder witzige Reels mehr? Warum fühle ich mich einsam, wenn mich mal zwei Stunden kein Screen anstarrt? Warum habe ich Angst vor Anrufen und finde es voll okay, mit vier Leuten gleichzeitig zu chatten? Da ist irgendetwas in mir.

Vielleicht bin ich im Begriff, etwas zu werden, das es noch nicht gibt. Ein Wesen, für das die Kategorien, in die ich hin­ein geboren wurde, nicht mehr existieren. Ich bin nicht, was meine Großeltern waren. Ich bestehe halb aus Fleisch und Knochen, halb aus Daten – und einem undefinierten Rest.

Das ist nicht ungewöhnlich, der menschliche Körper ist seit jeher Zerteilungen und Neuverbindungen ausgesetzt. Statt der Hand, die pflügt, ist es heute der Zeigefinger, der wütet. Nur, dass er potenziell tatsächlich überall sein kann.

Bei aller Liebe zum Digitalen kann das krass anstrengend sein. Der Markt ist überall. Er formt stets, wer ich, wo ich, wie ich, was ich bin. Ich arbeite am meisten, wenn ich nicht arbeite.

Ich bin quasi angestellt bei der Vektorialistenklasse, den neuen Kapitalisten, die Daten für Geld sammeln. Die von all meinen Klicks des Tages profitieren – und von den Informationen, die zu den Klicks geführt haben und unendlich kombinierbar sind: Metadaten. Sie enthalten alles, was ich je gelesen, gekauft, bewertet oder verschwiegen habe.

Die Wesen, die sie schaffen, sind halb persönlich, halb unpersönlich. Zusammengesetzt aus den Spuren, die ich hinterlasse und denen anderer, die ich absorbiere. Das Netz kennt mehr Leute, mit denen ich ein krudes Lieblingslied, ein Trauma oder einen Suchverlauf gemeinsam habe, als ich je im Leben berührt habe.

Ort, an dem etwas Neues beginnt

Ich könnte jetzt sagen: Schrecklich, ich will back to the roots. Ich will wieder mit meiner Oma spazieren, ohne ein Foto von den scheiß Veilchen am Wegesrand zu machen, um es mit einem Herzchen garniert hochzuladen. Oder Vögeln zuhören, ohne dass ich an Synthesizer denke.

Doch diese Idylle gab es ja nie. Vielleicht ist der undefinierte Rest in mir der Ort, an dem etwas Neues beginnt. Vielleicht ist es das, was Amy Ireland und Maya B. Kronic mit ihrem queer-futuristischen Buch „Cute Accelerationism“ vorschlagen. Ihre spekulative Theorie ersetzt apokalyptische Bro-Szenarien durch eine Philosophie der Weichheit und zarten Störung. Die Herzchen in unseren Fotos haben uns alle längst in niedliche Objekte verwandelt.

Sich hingeben, abgeben

Vielleicht geht es nicht darum, die Entwicklung aufzuhalten, sondern sie sich anzueignen. Sich hingeben, Teile von sich abgeben, sie in Glitzer tauchen.

Nicht aus Eskapismus, als subversive Praxis. Das Zarte ist nicht schwach, es feiert das Unreife, Queere. Es geht darum, zu kapern, was uns längst verwandelt – auch die neuen Wesen, die das System erzeugt und nicht einhegen kann.

Rede ich mir das nur ein, um mich nicht so lost zu fühlen? Doch was muss ich fühlen, um zu denken, was ich ahne? Ich schaue aus dem Fenster.

Es ist kalt. Ich strecke meine Arme aus, warte auf das sanfte Einprasseln der Metadaten.

Es fühlt sich an wie lauer Wind auf einem Foto von einem Gemälde am Meer.

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Philipp Rhensius ist Autor, Soziologe, Journalist, Musiker und Editor von Norient. Seine Arbeiten sind angetrieben von der Idee, dass das Fühlen der Ketten der erste Schritt zur Emanzipation ist. Seit Herbst 2024 schreibt er die taz-Kolumne "Was macht mich" - mal poetisch, mal politisch, mal wtf!?
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2 Kommentare

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  • Wunderschön geschrieben, eine Gratwanderung zwischen Poesie und Sachlichkeit. Für einen Haiku zu lang, aber es wird Stimmung wie in einem Haiku transportiert. Viel mehr Zeilen, als wie in einem Haiku, aber immer noch kurz genug um prägnant zu sein. Hat den Nerv getroffen, der allen Internet-Junkies im Laufe der Jahre gewachsen ist. Wie war das? Die Synapsen können sich neu organisieren, auch im höheren Alter? Die Reorganisation läuft nicht in Schüben, sondern stetig. Mit jeder dopamingesteuerten Interaktion im Netz.

  • Unheimlich!



    Natürlich kann man sich nicht ganz von der Entwicklung freimachen.



    Aber ich bin froh, wenn ich mal wieder was lese, so ganz analog.



    Das macht was ganz Anderes mit Einem.



    Angesichts der jüngsten Zahlen von 20% der Kinder und Jugendlichen, bei denen eine Internetabhängigkeit besteht, muss sich die Gesellschaft dringend um Jugendschutz kümmern. Rauchen und Kiffen sind da nicht mehr das Hauptproblem. Die gibt es ja weiterhin, doch wir müssen die Gefahren der Abhängigkeit erstmal erkennen. Das hat bei Rauchen und Trinken,gesamtgesellschaftlich betrachtet, ja auch ziemlich lange gedauert.



    Beides war in der Schule allerdings stark eingeschränkt bzw. verboten.



    Seltsam, dass die derzeitige Jugendgefährdung, die ja auch noch mit Mobbing und Hass einhergeht, so intensiv ignoriert wird.



    Liegt wahrscheinlich daran, dass wir Erwachsenen auch ungern darüber nachdenken, ob unser Internetkonsum nicht vielleicht auch Etwas zu hoch ist...