Medizinprofessor über Impfgeschichte: „Pockenimpfungen waren umstritten“
Bereits im 19. Jahrhundert waren viele impfkritisch. Professor Philipp Osten leitet das Institut für Medizingeschichte und zieht Parallelen zu heute.
taz: Herr Osten, Corona ist in der globalen Öffentlichkeit seit dem frühen Frühjahr ein Fakt: Hat es je eine schnellere Entwicklung eines Impfstoffes gegeben?
Philipp Osten: Rekord ist, wie schnell der RNA-Impfstoff so weit war, dass eine klinische Arzneimittelprüfung beginnen konnte: im April 2020. Wobei man anfügen muss, dass in Deutschland eine geordnete Arzneimittelprüfung erst seit dem Contergan-Skandal existiert.
Als schwangere Frauen dieses Beruhigungsmittel rezeptfrei kaufen konnten und vielfach Kinder mit körperlichen Fehlbildungen zur Welt brachten.
Vor 1961 konnten Firmen und Apotheken ohne staatliche Prüfung jede beliebige Substanz von einem Tag auf den anderen auf den Markt bringen. Nur die Produkthaftung sollte die Arzneimittelsicherheit gewährleisten. Lange hatten MedizinerInnen und StatistikerInnen eine Zulassungsbehörde nach britischem oder amerikanischem Vorbild gefordert.
Die Politik lehnte ab?
Ja. Ihr Argument: Die chemische Industrie in Deutschland sollte sich nach dem Krieg ungehindert erholen. 15 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs war Deutschland drittgrößter Pharmaproduzent der Erde und hatte eine bis dahin unvorstellbare Arzneimittelkatastrophe verursacht. Bis 1972 dauerte es, ehe sich Wissenschaft, Wirtschaft und Politik auf die im Prinzip noch heute übliche Arzneimittelprüfung geeinigt hatten, die schrittweise Tier- und Menschenexperimente vorsieht.
Ist die EU-weite Impfung seit Ende dieses Jahres ein purer Erfolg?
Die Verteilung über die EU erfolgt nach Bevölkerungsgröße und nicht nach Wirtschaftskraft oder dem Standort der Hersteller. Dass nationalistische Rangeleien um Impfdosen ausblieben, ist bemerkenswert. Die europäische Idee würde in diesen Tagen glänzen, wäre da nicht zeitgleich der beispiellose Zivilisationsbruch in den Flüchtlingslagern an den südlichen Außengrenzen.
Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Direktor des Medizinhistorischen Museujms Hamburg, wo 2021 eine Corona-Ausstellung gezeigt werden wird.
Welche Epidemie war Anlass für die Entwicklung des ersten Impfstoffs? Seit wann gibt es überhaupt die kurierende Technik des Impfens?
Die erste Impfung in Europa gab es gegen die Pocken, Ende des 18. Jahrhunderts. Eine hoch ansteckende Krankheit, an der etwa 20 Prozent der Infizierten starb. Mit dem Ausbau des Handels und der Etablierung von entwickelten sich die immer häufigeren Pockenepidemien zum Skandal des 18. Jahrhunderts. Ab 1750 zog die Seuche mit grausamer Regelmäßigkeit durch Stadt und Land. Da die Pocken in den Amerikas unbekannt gewesen waren, töteten sie, von den europäischen Eroberern eingeschleppt, auf einen Schlag 20 Prozent der damit konfrontierten Bewohner des Kontinents.
Wie lange hat es gedauert, Stoffe gegen Epidemien zu entwickeln, etwa gegen die Pocken?
Es brauchte immer sehr viele Jahre, bei allen Epidemien. In Westafrika und im nördlichen Indien impften Heilkundige bei Pockenepidemien Kindern das Sekret aus Pockenbläschen von Menschen mit einem günstigen Krankheitsverlauf. Mit einem Messer wurde das Kontagium unter die Haut geritzt, in China wurde es in die Nase eingebracht. Alle so Geimpften erkrankten an den Pocken, aber nur etwa zwei Prozent starben daran. Ein als Sklave nach Boston verschleppter Afrikaner berichtete 1706 von dieser Methode, auch in der Türkei etablierte sie sich. In unseren Breiten populär wurde die Praktik erst 1721, als die britische Schriftstellerin und Frau des britischen Botschafters beim Osmanischen Reich, Mary Wortley Montagu, der Royal Society drüber berichtete
Wie entwickelte sich die Recherche nach den zu Impfenden – es gab ja im frühen 19. Jahrhundert allenfalls Kirchenregister für die Bürger und Bürgerinnen?
Bayern und Hessen waren 1807 die ersten Staaten, die eine Impfplicht gegen die Pocken einführten. Dazu wurden Kirchenbücher in staatliche Impflisten überführt, so entstanden die ersten zentralen Melderegister. Impfärzte unterstanden dem Innenministerium. Leibärzte der Fürsten waren nun auch für die Körper der Untertanen zuständig. Bei der Impfung hatte der größte Teil der Bevölkerung erstmals Kontakt zu Ärzten. Medikalisierung und die Implementierung von Gouvernmentalität gingen Hand in Hand.
Es gibt, in Sachen Corona, viele, die sich heutzutage dagegen wehren, geimpft zu werden. Ist das ein neues Phänomen – oder war dies bei früheren (Langzeit-)Epidemien ebenso der Fall?
Schon gegen die Kuhpockenimpfung gab es massive Widerstände. Einige Skeptiker setzten die Impfung mit einem tierischen Erreger mit Sodomie gleich. Bemerkenswert ist, dass bereits Mitte des 19 Jahrhunderts antisemitische Hetz-Flugblätter verfasst wurden, die sich gegen die Pockenimpfung wandten. Fast alle Ressentiments gegen die Aufklärung vereinigten sich in der Impfgegnerschaft.
In Schweden gab es vor wenigen Jahren eine Impfkampagne, die für viele Menschen sehr misslich ausfiel – sie erkrankten an Narkolepsie, der Schlafkrankheit. Sind Impfängste nicht verständlich?
Dieser Fall betraf 2015 über 1500 Menschen in skandinavischen Ländern und Irland, die gegen Grippe geimpft worden waren. In dem Impfstoff Pandremix gab es hohe Konzentrationen eines Antikörpers gegen einen Neuro-Rezeptor. In Studien an gesunden ProbandInnen war das nicht aufgefallen. Dass WissenschaftlerInnen aus dieser Tragödie gelernt haben, nutzt den Betroffenen wenig. Ein Argument gegen das Impfen ergibt sich daraus jedoch nicht, eine „echte“ Grippe hätte weit mehr Schlechtes bewirkt.
Gab es je sichere Impfstoffe?
Impfstoffe sind die am meisten verbreiteten Arzneimittel, selbst statistisch gesehen sehr seltene Zwischenfälle bedeuten eine Katastrophe. Deshalb sind die Anforderungen so hoch. Maximale Sicherheit bedeutet, alle technischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Aber wir können nur diejenigen Fehler identifizieren, die mit wissenschaftlichen Methoden von heute sichtbar sind. Institutionen, die erkennen, dass ihr Wissen begrenzt ist, würde ich indes vertrauen.
Belegt die Historie der Entwicklung von Impfstoffen die Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung?
Vor der Einführung der Kuhpockenimpfung erlebte im ländlichen Raum etwa die Hälfte der Kinder ihren fünften Geburtstag nicht. Auch die Behandlung der Diphterie hat sich massiv in den Statistiken niedergeschlagen. Bei den Masern ist das anders. In ärmeren Stadtbezirken starben 20 Mal mehr infizierte Kinder daran als in wohlhabenden. Die Ursache waren Mangelernährung und Vorerkrankungen. Innerhalb von zehn Jahren halbierte sich mit Beginn der Weimarer Republik die Säuglingssterblichkeit. Zur Kaiserzeit war sie mit über 20 Prozent (!) die höchste in Europa gewesen. Fürsorgeeinrichtungen und kommunale Sozialpolitik brachten den Durchbruch, Impfungen gehörten ebenso dazu wie Wohnungsbau, Mutterschutz und die Hebung des Lebensstandards.
Sollte es eine Impfpflicht geben?
Nein. Gute Information und niederschwellige Verfügbarkeit vorausgesetzt, werden sich genügend Menschen impfen lassen. Daher wäre die Anwendung von Zwang ein unnötiger Exzess.
Können Sie das Impfen gegen die Ansteckung mit Corona empfehlen?
Die Impfung nicht zu empfehlen, bedeutet das Sterben von Menschen mit Vorerkrankungen oder hohem Alter zu befördern. Als Historiker ordne ich impfskeptische oder -ablehnende Strömungen in die sozialdarwinistischen Diskurse des 20. Jahrhunderts ein.
Ist es aus Ihrer Sicht epidemiologisch klug, in puncto Impfung gegen Corona mit den Ältesten zu beginnen, außerdem mit den Pfleger:innen, Ärzt:innen etc.?
Klar! Noch wissen wir ja nicht, ob die Impfungen nur schwere Erkrankungen verhindern oder ob sie auch die Weitergabe des Virus unterbinden. Deshalb ist das Konzept, erst die besonders gefährdeten Gruppen zu impfen, genau richtig.
Wüssten wir, dass die Impfung auch die Ansteckung verhindert, wäre nicht das Alter, sondern die Zahl der Kontakte das wichtigste Kriterium. Dann wären nicht ältere Menschen, sondern die BesucherInnen von Massenveranstaltungen die idealeren Impflinge.
Man impfe sich nicht für sich, sondern für andere, die Schwachen: Stimmt dieser Satz?
Wenn die Impfung die Weitergabe der Infektion verhindert kann, bilden die Geimpften einen unsichtbaren Ring um die Nicht-Geimpften. Gültig ist dieser Satz besonders für Säuglinge und Menschen mit Immunschwächen – die können nicht geimpft werden. Sie sind abhängig von der Impfbereitschaft, in diesem Sinne: von der Solidarität ihres Umfelds.
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