Medizinerin über Transsexualität: "Viele erleben die Pubertät als Qual"
Sexualmedizinerin Hertha Richter-Appelt über das gesellschaftliche Klima und warum sie unter Umständen Hormonbehandlungen von transsexuellen Kindern befürwortet.
taz: Frau Richter-Appelt, die taz berichtete kürzlich von einem transsexuellen Mädchen von elf Jahren, dem die gewünschte Behandlung mit pubertätverzögernden Mitteln verweigert wird. Stattdessen soll es in die Psychiatrie eingewiesen werden. Wie gehen Sie mit solchen Fällen um?
Hertha Richter-Appelt: Probleme mit der Geschlechtsidentität im Kindes- und Jugendalter sind für sich genommen noch kein Grund für eine stationäre Aufnahme. In unserer Spezialambulanz wurden in letzter Zeit etwa 70 Kinder mit diesem Problem behandelt. Sie kommen zu regelmäßigen psychotherapeutischen Gesprächen, wobei auch die Angehörigen einbezogen werden. Aufgabe dieser Gespräche ist es, zu erfassen, in welchen Bereichen und über welchen Zeitraum das Kind sich hinsichtlich seines Geschlechts als anders erlebt und welche Probleme aufgetreten sind. Die Gespräche werden mindestens über ein Jahr geführt.
Ab welchem Alter setzt dann die Behandlung ein?
Bei Kindern, bei denen erste Anzeichen der Pubertät eingesetzt haben, kann nach einer längeren Phase der Begleitung die Indikation für eine Behandlung mit pubertätstoppenden Medikamenten gestellt werden. In den darauffolgenden drei bis vier Jahren wird dann gemeinsam mit dem Therapeuten geschaut, ob der Wunsch nach einem Geschlechtswechsel bestehen bleibt. Frühestens nach dieser Zeit kann dann mit der gegengeschlechtlichen Hormongabe begonnen werden. Für hormonelle Behandlungen wird aber immer eine zweite Meinung eingeholt.
Professor Beier von der Berliner Charité meint, dass man die Pubertät nicht stoppen darf, weil der pubertäre Hormonschub die Geschlechtsidentität noch einmal ändern könnte.
Diese Auffassung entspricht nicht den in letzter Zeit erschienenen wissenschaftlichen Standards. Viele dieser Kinder erleben den Hormonschub in der Pubertät als extreme Qual. Sie binden oft die Geschlechtsteile oder die Brust ab bis hin zum Wundwerden.
Im Berliner Fall wird gemutmaßt, die Mutter habe dem Kind die Transsexualität "induziert". Ist so etwas möglich?
Ich behandle seit 30 Jahren Personen mit Transsexualität. Eltern können Kinder sehr verunsichern, keine Frage, aber das kann man in einer sorgfältigen Begleitung herausfinden. Dieses Argument kommt oft von Leuten, die nicht wahrhaben wollen, dass es Transsexualität gibt, dass die Biologie dabei eine sehr große Rolle spielt.
Wieso sehen die Berliner das so anders?
Es werden in Berlin andere Auffassungen vertreten. Man muss allerdings dazu sagen, dass wir in Hamburg eng in einem internationalen Forschungsverbund zusammenarbeiten, mit Norwegen, Belgien und Holland zusammen, und Fachleute in all diesen Ländern vertreten unsere Ansicht.
In Berlin empfehlen die Ärzte eine Psychotherapie, in der dem Kind sein biologisches Geschlecht nahegebracht werden soll: Geschlechtskonformes Verhalten wird gelobt, nichtkonformes Verhalten wird "nicht beachtet oder beiläufig unterbunden", so schreibt Beier in seinen Empfehlungen.
Das ist ein überholter Standpunkt.
Dieser Standpunkt steht aber in dem Kompendium zur Sexualmedizin …
… das Beier geschrieben hat. In unseren Büchern zur Sexualmedizin steht das nicht. Auch wir empfehlen eine Psychotherapie. Aber dabei geht es darum, wie sich dieses Kind am besten entwickeln kann, und nicht darum, dem Kind etwas auszutreiben oder einzureden.
Warum wird eigentlich eine normale biologische Variante wie die Transsexualität als Störung der Geschlechtsidentität, als psychische Störung bezeichnet? Das ist doch eine Pathologisierung.
International wird erwogen, dieses Phänomen als Geschlechtsdysphorie zu bezeichnen. Das heißt, nicht mehr der Wunsch, im anderen körperlichen Geschlecht zu leben, wird als Krankheit angesehen, sondern das Leiden unter der Andersartigkeit. Transsexualität könnte dann einfach eine körperliche Diagnose sein. Allerdings: Psychische Probleme haben sehr viele Personen mit Transsexualität.
Aber es ist doch ein Unterschied, ob man an einer Störung leidet oder daran, dass die Gesellschaft die Variante, die ein Transmensch bildet, nicht zulässt.
Das gesellschaftliche Klima ist gar nicht mehr so häufig das Problem. Die Umwelt reagiert heute oft erstaunlich gelassen. Da haben wir alle zusammen etwas dazugelernt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen