Medium zur internationalen Solidarität: Blätter, die die Welt beleuchten
284.195 Dokumente lagern in einem Freiburger Hinterhaus: Das Archiv des „IZ3W“ ist ein Geschichtsbuch linker Soli-Bewegungen.
50 Jahre alt wird das IZ3W in diesen Tagen. Und genauso lange sammelt es jedes Flugblatt, jede Broschüre, jede Zeitung, die von der Szene herausgegeben wird. „Die Revolution war von Anfang an ein wesentlicher Bestandteil von 1968“, sagt Christian Neven-Du Mont, der das Archiv seit über vier Jahrzehnten verwaltet. „Wir haben ja alle geglaubt, mit der Revolution, das ist eine Sache von fünf bis zehn Jahren. Dann kommt sie.“ Für viele war klar, woher sie kommen würde: aus dem globalen Süden. Das Problem war: Über diesen war wenig bekannt. „Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, wie dilettantisch die Berichterstattung war“, sagt Neven-Du Mont. „Ob es deswegen Hunger gibt, weil nicht für alle genug Essen da ist – so etwas wurde breit diskutiert.“
Also sammelten die Aktivisten 2.000 unterschiedliche Zeitschriften, manche nur einmal erschienen, von anderen Ausgaben ganzer Jahrzehnte, bis heute. 200 bis 300 gebe es nur in ihrem Archiv, sagt Dumont. Einst hat er Geschichte studiert, doch schon in den 70ern fing er im IZ3W-Achiv an. Es ist sein Haupterwerb, seit rund 40 Jahren. 284.195 Dokumente mit Inhaltsangabe gibt es im elektronischen Verzeichnis. Einzelne Artikel, Buchbeiträge, Broschüren, Flugblätter. Über eine halbe Million Dokument insgesamt, die meisten noch nicht verschlagwortet. „Die noch alle zu erfassen, das möchte ich mir gar nicht vorstellen, bis dahin bin ich längst tot“, sagt-Du Mont.
Die Mühe lohnte sich. 2007 kam der namibische Historiker Bennet Kangumu nach Freiburg. Er forschte zur Geschichte der SWAPO. Im IZ3W entdeckte er ein Plakat mit einem Porträt des SWAPO-Führers Brendan Simbwaye. Den hatte 1964 Südafrika ins Gefängnis gesteckt. Er ist nie wieder aufgetaucht. In Namibia gab es kein Porträt mehr von ihm. Das 1970 in Daressalam gedruckte Plakat aber hatte in Freiburg überlebt. Heute wird es in Basel verwahrt. Das Problem gab es in vielen Ländern mit repressivem Regimen, sagt Du Mont. Aus Angst vor Verfolgung sei vieles vernichtet oder so gründlich versteckt worden, dass es später keiner mehr finden konnte. Nur im Exil konnten manche Schriften aufbewahrt werden.
Als Mugabe im Bett des Solibewegten schlief
Natürlich, sagt Du Mont, habe es immer den Vorwurf gegeben, „dass wir Befreiungsbewegungen glorifizieren“. Und tatsächlich habe man sich manchmal dann die Frage gestellt, auf welcher Seite man eigentlich stand, „wenn Konflikte auftraten, die nicht zu leugnen waren“.
Horst Pöttker erinnert sich an solche Fälle. 1971 war er der erste hauptamtliche Redakteur der Blätter des IZ3W. Der spätere Diktator Simbabwes, Robert Mugabe, durfte damals bei einer Vortragsreise in seinem Bett übernachten, erinnert er sich.
Sein Ressort der Blätter trug den Namen „Medienkritik“. Und das hieß, so erinnerte er sich später: „Fälschungen aufdecken, mit denen die von Profitgier besessenen Medien die imperialistischen Strategien der deutschen Konzerne deckten und rassistische Vorurteile gegen die Völker der Dritten Welt, besonders gegen die Befreiungsbewegungen schürten.“
Im Oktober 1976 erschien die Ausgabe 56 der Blätter, der Titel: „Revolutionäre Gewalt in Indochina“. Auf dem Cover war das Bild eines Khmer mit gezückter Pistole, kurz nach dem Abzug der Amerikaner aus Phnom Penh. Pöttker zitierte, was die verhassten bürgerlichen Blätter zu dem Bild geschrieben hatten. Der Stern schrieb: „Dem Sieg folgt die Rache an den Reichen“.
Darunter setzte Pöttker die eigene Deutung: Das Foto zeige einen „Soldaten der siegreichen kambodschanischen Befreiungsbewegungen, der gegen Plünderungen vorgeht“. Später habe er sich für den „triumphalen Unterton, mit dem ich uns auf die Seite des mörderischen Regimes schlug, geschämt“, schreibt Pöttker.
Keine Einigkeit in der Militanzfrage
Auch Du Mont erinnert sich an die Sache mit maoistischen Khmer, die rund zwei Millionen Landsleute ermordeten. „Während des Indochinakrieges ging jeder davon aus, das sie das allerbeste für ihr Land wollen. Erst als sie an der Regierung waren und mit terroristischen Methoden vorgingen, hat sich der Blickwinkel geändert, mit einer gewissen Zeitverzögerung.“ Wie schnell das ging? „Bei einigen sehr schnell, andere brauchten etwas länger.“
Die Khmer waren ein Extremfall, aber doch die Frage, wie man es mit der Militanz hielt, war immer da. Für viele AktivistInnen war einst klar: Die unterdrückten Indigenen in Lateinamerika hätten kaum mit Unterschriftensammlungen versuchen können, CIA und Großgrundbesitzer mit zu vertreiben. Und so hielten sie den bewaffneten Kampf selbstverständlich für legitim. Andere waren grundsätzlich pazifistisch.
Die Militanzfrage war nicht die einzige Kontroverse. Auch auf die Frage, was Entwicklung eigentlich sein soll, fand die Gruppe keine eindeutige Antwort. „Um 1990 sollten alle die Frage, was sie unter Entwicklung verstehen, schriftlich auf einem Blatt Papier beantworten. Da kamen sehr kontroverse unterschiedliche Sachen raus.“ Ein Teil der Gruppe wollte die Industriegesellschaften zurückbauen – auf ein Niveau, irgendwo „zwischen Bangladesch und den USA.
Aus der Guerilla wurden Bürgerliche
Viele hatten erwartet, dass der Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks eine Zäsur für Gruppen wie das IZ3W bedeuten würde. Tatsächlich kam diese erst fünf Jahre später. Vom Realsozialismus hatte man nie viel gehalten, von den nationalen Befreiungsbewegungen umso mehr. Doch nun entwickelten sich die Guerillas in Mittelamerika zu bürgerlichen Parteien, Korruption und Repression inklusive. In Südafrika machte der ANC nach seiner Machtübernahme Schluss mit sozialistischen Ideen. „Da haben sich dann sehr viele Hoffnungen verflüchtigt“, sagt Du Mont.
Als 2004 der PLO-Führer Yassir Arafat starb, kam eine Schülerin zu Du Mont. Sie wollte „was Radikales“ über Arafat lesen. Er habe geantwortet: „Wir haben was Radikales für und was Radikales gegen Arafat. Was willst du?“ Ein Archiv müsse ganz gegensätzliche Materialien enthalten, sagt er. Auch Verabscheuungswürdiges könne historisch interessant sein. Die Gruppe wolle die Vielfalt des Materials bewahren, auch wenn es in sich widersprüchlich sei. „Und damit wollen wir auch leben.“
Differenzen gibt es viele, der Konsens war schmal und ist es bis heute. „Jeder von uns wird sich sicher als antirassistisch verstehen“ sagt Du Mont. Und „im Groben“ begreife man sich „als antimilitaristisch und fängt nicht plötzlich an, den Krieg zu bejubeln“. Doch im Detail ist das schwierig. Nach dem Beginn des Irakkriegs, 2004, erinnerte der iz3w-Redakteur Christian Stock an den „antiamerikanischen Konsens der Mehrheitslinken“. Daraufhin wurde ihm von Außen „Bellizismus“ vorgeworfen – und auch im Innern der Gruppe habe es „ziemlich gekracht“, so iz3w-Redakteurin Larissa Schober.
In den 70er Jahren war das Angebot an Subjekten der Solidarität groß. Im Zweifelsfall war man für die Unterdrückten. Heute haben nicht nur Terror und Dschihad die Sache komplizierter gemacht. „Es ist jetzt wohl leichter, die Ausnahmen der aufzuzählen, mit denen man noch solidarisch sein kann“, sagt Du Mont. Vieles gilt deutschen Linken heute nicht mehr als links. „Nordsyrien ist vielleicht eine Ausnahme.“ Doch soll man versuchen, das Assad-Regime zu stürzen? Oder lässt man das besser bleiben? Darauf haben die Aktiven im IZ3W auch keine gute Antwort. Die Schwierigkeit, eindeutig Position zu beziehen, breche „alle naselang auf“, sagt Du Mont. Zuletzt in Katalonien. „Da existieren sehr unterschiedliche Antworten drauf. Und dafür sind wir ja da, das zu dokumentieren.“
Einen Teil des Archivs hat das IZ3W bereits abgegeben, etwa an die Basler Afrika-Bibliografien. Der Rest liegt in dem gemieteten Haus in der Kronenstraße. „Ich weiß wo alle Dokumente liegen. Aber ich bin da wohl der einzige. Wenn mir eines Tages ein Blumentopf auf den Kopf fällt und ich dement werde, müsste ich das bis dahin so gestaltet haben, dass das jemand anderes recherchieren kann“, sagt Du Mont.
Was soll aus dem riesigen Archiv werden?
Er ist jetzt 70 Jahre alt. „Das ist traurig, irgendwann tickt da die biologische Uhr“, sagt Du Mont. So, wie es ist, wird es nicht weitergehen. Das Archiv ist Teil eines Verbundes der „Dritte Welt Archive“. Sie werden sich zentralisieren müssen, vielleicht an Universitäten. Für zwei, drei Leute, schätzt Du Mont, könnte sich eine Finanzierung finden. „Unter den Archiven diskutieren wir das nicht gern, weil sie alle so weitermachen wollen wie bisher.“
Doch so wird nur ein kleiner Teil der Dokumente erhalten bleiben. Kein Zweiter wird, wie Du Mont, sein Leben der Aufgabe widmen, den gigantischen Korpus erschlossen zu halten. Der einzige Weg, das Material zu erhalten, wäre seine Digitalisierung. Du Mont weiß das. Aber er ist skeptisch. „Es scheitert an der Masse“, sagt er. Es gebe Maschinen, die Texte scannen und automatisch verschlagworten. „Aber der Apparat denkt nicht mit.“ Und denken, darum gehe es doch.
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