Medikamentenmangel in Deutschland: Am Tropf der Welt
Um Kosten zu sparen, hat Deutschland die Medikamentenproduktion an Monopolisten im Ausland delegiert. Diese totale Abhängigkeit rächt sich.
W o man hinschaut, fehlen in Deutschland qualifizierte Arbeitskräfte. Und jetzt fehlen auch noch Medikamente! Aber wir haben ja zum Glück das beste Gesundheitswesen. Oder? Pflegekräfte sind es gewohnt, den Arbeitskräftemangel mit Überstunden und Doppelschichten auszugleichen. Wenn das noch nicht reicht, dann nehmen sie halt vier, fünf oder sechs Patient:innen in ihre pflegerische Obhut statt der erlaubten zwei. Das ist besorgniserregend, doch auf Einsatzbereitschaft und Ethos der Pflegekräfte war schon immer Verlass.
Aber nun geht es plötzlich ans Eingemachte: „Angespannte Lage auf dem Arzneimittelmarkt“, „Fiebersenkende Mittel und Hustensäfte gehen aus“, „Lieferengpässe“, „Keine Antibiotika mehr vorhanden“. Viele Medikamente sind nicht mehr ausreichend verfügbar, einige Regale sind leer. War es nicht so, dass im Kapitalismus sogleich produziert und verkauft wird, wenn Umsatz und Gewinne winken? Wieso funktioniert das hier nicht?
Zuerst der akute Grund: Nicht die angesagte vierte, fünfte oder sechste Coronawelle rollt zur Zeit übers Land, sondern eine fulminante Grippewelle mit dem Schwerpunkt auf RS-Viren, die Arztpraxen und Krankenhäuser an ihre Grenzen bringt. Da kann es schon mal zu einem Versorgungsengpass kommen, kurz und vorübergehend. Das ist normal.
Der chronische Grund allerdings wiegt schwerer. Die älteste Meldung über einen Lieferengpass findet sich 1985 im Deutschen Ärzteblatt. Eine Augensalbe konnte wegen produktionstechnischer Schwierigkeiten nicht in den Handel gebracht werden. Eine Lappalie. Dreißig Jahre später aber war daraus eine Lawine geworden. Wir schreiben das Jahr 2016, als das Bundesgesundheitsministerium aufgrund einer Kleinen Anfrage der Linken-Fraktion 13 Impfstoffe und 26 Medikamente auflisten musste, bei denen Lieferengpässe aufgetreten waren.
Globale Billigkonkurrenz
Die Aufregung war groß. Mittlerweile nämlich handelte sich um lebenswichtige und kaum zu ersetzende Medikamente wie die Antibiotika Ampicillin, Piperacillin und Metronidazol. Betroffen war auch Metoprolol, der damalige Blockbuster unter den Blutdrucksenkern, ebenso das Krebsmedikament Melphalan und das Anti-Parkinson-Mittel Levodopa. Es fehlten Impfstoffe gegen Kinderlähmung, Tetanus, Diphterie und Keuchhusten. Das alles ist jetzt schon sieben Jahre her. Zum Besseren gewendet hat sich seitdem nichts.
Woran liegt das? Mit dem Ablauf von Patentschutzfristen wurde die Arzneimittelproduktion durch globale Billigkonkurrenz immer häufiger unrentabel, ganze Produktionslinien wurden in Europa stillgelegt. Das erwähnte Piperacillin wurde zum Beispiel nur noch in zwei Fabriken auf der ganzen Welt hergestellt, und eine davon, die in China, war 2016 explodiert. Außerdem wurden und werden komplette Chargen von Arzneimitteln durch international agierende Großhändler ins Ausland verschoben, wo höhere Gewinne locken als hierzulande.
Geringe Lagerkapazitäten
Lagerkapazitäten werden so gering wie möglich gehalten, weil sie als nutzlose Kosten gelten, sowohl in den Fabriken als auch bei den Zwischenhändlern. Im Falle eines plötzlich höheren Bedarfs gibt es keine Reserven. Rabattverträge einzelner Krankenkassen mit Medikamentenherstellern kickten außerdem die noch verbliebenen Produzenten und deren Produktionskapazitäten vom europäischen Markt.
Denn nach der ewigen Demagogie von der „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen, die es tatsächlich nie gegeben hat, galten die Arzneimittelausgaben als größte Kostentreiber bei den gesetzlichen Krankenkassen. Mit dem im Januar 2003 in Kraft getretenen Beitragssatzsicherungsgesetz (BSSichG) bekamen die Krankenkassen – als eine von vielen Kostendämpfungsmaßnahmen – die Möglichkeit, mit Hilfe direkter Belieferungsverträge Medikamente zu fest vereinbarten Preisen mit hohem Rabatt zu beziehen. Die Preisgestaltung der Krankenkassen geschah nach Ausschreibungen. Die Vereinbarungen führten grundsätzlich zu Dumpingpreisen, und diese Verträge unterliegen bis heute strikter Geheimhaltung (!). In der Folge stellten Hersteller, die nicht zum Zuge gekommen waren, die Produktion des betreffenden Arzneimittels ein.
Problematische Rabattverträge
Die daraus resultierende schrittweise Monopolisierung ließ eine Pharmafirma nach der anderen komplett aussteigen. So kommt es, dass es heute in Deutschland – vor nicht allzu langer Zeit die „Apotheke der Welt“ – keinerlei Arzneimittelproduktion mehr gibt. Nahezu die gesamte Arzneimittelproduktion der Welt findet inzwischen in Indien, Pakistan und China statt. Die Ausgaben für Arzneimittel in Deutschland betrugen im Jahr 2021 etwa 45 Milliarden Euro, die Einsparungen durch die Rabattverträge etwa 4 Milliarden Euro. Für diese zwar nicht unerhebliche Ersparnis hat Deutschland seine Produktionsstätten mit allen Arbeitsplätzen und sein Know-how verloren und ist stattdessen in eine völlige und gefährliche Abhängigkeit geraten.
Wenn Gaslieferungen stocken oder gestoppt werden, dann werden wir frieren. Was aber geschieht, wenn China seine Medikamentenlieferungen einstellt? Dann geht es um Leben und Tod. Vielleicht wird demnächst wieder eine Fabrik explodieren, vielleicht braucht China die Medikamente selbst, vielleicht hat jemand ein falsches Wort über Taiwan gesagt.
Die Abhängigkeit ist inzwischen total, und auf die Lieferketten haben Europa und Deutschland keinerlei Einfluss. Wir erleben zurzeit nur einen Vorgeschmack dessen, was uns bevorstehen könnte. Kleine Korrekturen werden da nichts helfen. Die Rabattverträge müssen weg. Die lebenswichtige Arzneimittelproduktion muss nach Europa zurückgeholt werden. Derzeit sehen wir, was geschieht, wenn unsere Daseinsvorsorge globalisiert wird und in der Hand multinationaler Konzerne liegt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance