Medienkonzern „Vice“ soll vor Aus stehen: Eine Ära geht zu Ende

Der amerikanische Medienkonzern Vice soll offenbar vor dem Aus stehen. Es wäre ein weiteres Millennial-Medium, das ins Straucheln gerät.

"Vice" Symbol, gelb

„Vice“-Partys wird es wohl nicht mehr so viele geben Foto: Dave Benett/getty images

Die Millenials sehen ziemlich alt aus. Gerade noch zur Kohorte hochgeschrieben, die alles verändern wird, wirken sie heute hüftsteif und werden von der wendigeren Generation Z überholt. Deren Lieblingsmedium TikTok beschäftigt die Feuilletons und die Regulierungsbehörden, während die Medien der Generation Y in die Röhre blicken. Ende April verkündete der Internetdienst Buzzfeed, dass er seine Newssparte einstellen wird. In dieser Woche berichteten mehrere US-Medien, dass Vice Media vor der Insolvenz stehen soll. Die beiden Medienunternehmen standen einmal für das, was die Millenials anders machten, für die Zukunft. Die scheint nun abrupt vorbei zu sein.

Es ist ein tiefer Fall: Unter Berufung auf anonyme Quellen im Konzern berichtete die New York Times am Montag, dass Vice sich darauf vorbereite, Konkurs anzumelden. Die Agentur Bloomberg bestätigte die Meldung mit eigenen Quellen. Noch 2017 war Vice fast 6 Milliarden Dollar wert, Medienkonzerne von Disney zu Murdoch wetteiferten darum, sich am hippen Medien-Start-up zu beteiligen. Zuletzt hatte Vice versucht, einen Käufer zu finden, für lediglich 1,5 Milliarden – vergeblich. Nun übernimmt vielleicht der größte Investor, Fortress Investment Group.

Vice führt weltweit fast 30 lokale Ausgaben, auch hierzulande: in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die seit 2018 gemeinsam koordiniert werden. Auch hier lieferte Vice seine typische Mischung aus Subkultur, Drogen, sozialen Problemen und oft auch seriösem Journalismus, etwa in der Technologie-Berichterstattung. Die ehemalige Österreich-Chefin Hanna Herbst ist mittlerweile im Team von Jan Böhmermann und der ehemalige Deutschland-Chef Felix Dachsel ist heute stellvertretender Leiter des Reporter-Ressorts des Spiegels. Weder Vice Deutschland noch die Zentrale in New York wollte auf Anfrage der taz die Berichte über die Insolvenz kommentieren oder über die Zukunft von Vice Deutschland und Österreich/Schweiz Auskunft geben.

Ganz überraschend kommt das drohende Aus nicht. Vice hatte immer Mühe, den Erfolg auch in digitale Werbeeinnahmen zu übersetzen. Und bereits seit 2018 häuften sich die schlechten Nachrichten. Seriösere Medien berichteten über das hochstaplerische Geschäftsgebaren von Gründer Shane Smith, HBO stellte eine gemeinsame Sendung ein und die Öffentlichkeit erfuhr, dass Vice 1,8 Millionen Dollar an weibliche Angestellte bezahlt hatte, um einer Klage wegen Diskriminierung auszuweichen. Berichte über sexuelle Belästigung und ein toxisches Arbeitsklima häuften sich.

Um das Image zu kitten, räumte Gründer Shane Smith den Posten als CEO für die Managerin Nancy Dubuc. Diese verließ Anfang des Jahres überraschend das Unternehmen, das sie eigentlich flott machen sollte. Dafür hatte sie 1,5 Millionen Dollar Grundgehalt bezogen, was ihr jetzt, wo das Unternehmen vor die Wand gefahren ist und Hunderte Angestellte ihre Stellen zu verlieren drohen, Kritik einbringt. Ein ehemaliger Manager von Buzzfeed sagte der New York Times: „Potential und Versprechung hat Profit und Effizienz Platz gemacht. Sexy verkauft sich einfach nicht.“

„Hipsterbibel“

Vice war mal so sexy. Was später zu einem weit verzweigten Medienkonzern werden sollte, begann 1994 als Punk-Magazin in Montreal. Mit einer Mischung aus provokanten Inhalten, Berichten über modebewusste Großstädter und subkulturellen Themen hatte das Magazin so großen Erfolg, dass es bald als „Hipsterbibel“ bekannt wurde. Die Ästhetik von Vice prägte eine ganze Ära, der der amerikanische Kulturtheoretiker Mark Greif mit dem Buch „What was the Hipster?“ ein kritisches Denkmal setzte. Für Greif war der Hipster eine Figur der Oberfläche.

Grundlegend apolitisch, aber besessen davon, Trends zuvorzukommen, für die man sich überall bedienen konnte, gerade bei der Kultur der Arbeiterklassen, die man ironisch approbierte. Emblematisch war in den 2000ern in den USA dafür die Truckermütze, eigentlich Symbol knochenharter Tieflohnjobs, nun plötzlich Sinnbild verzogener Großstadtjugend. Wohl nirgends sah man so viele Truckermützen wie bei Vice. Kern jeder Ausgabe von Vice Magazine war die Kategorie „Dos and Donts“, wo Fotos von mal mehr, mal weniger angestrengt hippen jungen Leuten auf Stilsicherheit abgeklopft wurden.

Beseelt davon, das Gewissen einer neuen Generation zu sein, schaffte Vice erst den Sprung aus dem beschaulichen Montreal in die Weltmetropole New York und dann vom Printprodukt zum Digitalimperium. Eine ganze Flotte an Websites sollte die kulturellen Präferenzen der Millenials bedienen: Broadly für feministische Themen, Munchies (Englisch für Kifferhunger) für Essen, Noisy für Musik, Motherboard für Technologie. Ende der 2000er startete Vice einen Youtube-Kanal mit Reiseberichten und Reportagen, der so erfolgreich wurde, dass HBO ab 2013 Vice einen Sendeplatz für ein Nachrichtenformat gab. Das sollte das Konzept Nachrichten überhaupt revolutionieren, die Sehgewohnheiten der Millenials ins Fernsehen bringen und die Millenials zurück zu etablierten Medien. Das wollte Vice mit der Mischung aus schockierenden Inhalten und roher Ästhetik wie aus Magazinzeiten erreichen.

Gonzo-Berichterstattung funktioniert nicht mehr

Was rauskam, war eine Mischung aus Jackass und CNN, irgendwas zwischen Hunter S. Thompson und John Stewart. Dafür gewann Vice bald Emmys. Aufmerksamkeit erhielten vor allem die Dokus über Nordkorea und Bilder aus dem Inneren des IS, die Vice als Erste zeigen konnte. Eine hochgelobte Doku über den Neonazi-Aufmarsch in Charlottesville war emblematisch für das Vorgehen von Vice: Kamera drauf und sprechen lassen. Selbst in einen fahrenden Van sprang die Reporterin, um den Nazis möglichst nah zu sein. Oft ging das auch schief. Eine Reportage über die Hamas fing Vice harsche Kritik ein, denn der Reporter versäumte es, den interviewten Islamisten kritische Fragen zu stellen. Gründer Shane Smith winkte solche Kritik gerne mit der Ausrede ab, dass sie keine Journalisten seien. Aber was dann?

Vice lag schon immer eine nihilistische Attitüde zugrunde. Die Obsession, schockierende Themen zu finden, jagte die Redaktion über die ganze Welt zu den „Rändern der globalen Kultur“, wie es im Marketingsprech der Firma hieß, zu den Abgründen von Schönheits-OPs in Nigeria oder Südkorea, zu abgehalfterten sowjetischen Kampfpiloten, die sich im Kongo verdingen, zu verschloßenen Diktaturen wie Nordkorea und immer wieder zu Sex und Drogen in allen erdenklichen Facetten. Schon im Magazin war ein misogyner Einschlag zu bemerken, der die Offenbarungen über das toxische Arbeitsklima wenig überraschend machte. Selbst dass Mitgründer Gavin McInnes nach seinem Ausstieg zu einer der wichtigsten Stimmen der Alt-Right-Bewegung wurde und die Neonazi-Organisation ProudBoys aufbaute, die bei der Stürmung des Kapitols maßgeblich beteiligt war, kam nicht aus dem Nichts.

Aber in einer Zeit, in der Haltung und Professionalität im Journalismus wieder an Stellenwert gewonnen haben, hat sich Vice mit seiner Gonzo-Berichterstattung und ausgestellter Naivität keine Gefallen mehr gemacht. Vice war wie eine tolle Party, auf der Millenials über alle möglichen digitalen Kanäle mitfeiern konnten. Aber mittlerweile dauert der Kater viel länger als noch vor ein paar Jahren. Irgendwann müssen alle nach Hause gehen.

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