Medien und die „Mitte der Gesellschaft“: Der Sehnsuchtsort, den es nicht gibt
Die deutschen Leitmedien fürchten um die gesellschaftliche Mitte: Sie rücke nach rechts, erodiere gar. Was die Mitte ist, weiß niemand.
Als Beweis dafür, wie bedroht die deutsche Mitte ist, muss ausgerechnet Björn Höcke herhalten.
Der Thüringer AfD-Vorsitzende, der gerade auf einer Tagung der Neuen Rechten über den „lebensbejahenden afrikanische Ausbreitungstyp“ und den „selbstverneinenden europäischen Platzhaltertyp“ sprach, war in der Süddeutschen Zeitung vom dritten Adventswochenende der erste Gesprächspartner über die erodierende Mitte. Höcke referiert neben Dieter Nuhr, Christian Wulff und Jamila Schäfer sein Verständnis der Mitte. Ein AfDler, ein Komiker, ein ehemaliger Bundespräsident und die Vorsitzende der Grünen Jugend – alles deutsche Mitte?
Ähnliche Sorgen machte sich der Spiegel, der am gleichen Tag erschien. „Die verstörte Nation“, titelte das Hamburger Nachrichtenmagazin, „Verliert Deutschland seine Mitte?“
Darin heißt es, dass die neue rechte Szene Verstärkung aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft bekommen hätte, von „wertkonservativen Intellektuellen, frommen Christen und Wutbürgern“, von „Menschen, die sich sonst als Linke bezeichnen würden, etwa Putin-Bewunderer, Globalisierungsgegner und radikale Pazifisten“. Galten die bislang als die deutsche Mitte?
Wenn zwei der wichtigsten deutschen Blätter die gesellschaftliche Mitte in den Fokus nehmen, dann muss sie wirklich bedroht sein. Dann steht dahinter die Angst: Die Mehrheit wird von ihren Rändern angegriffen, verkleinert sich, kommt ins Wanken. Das kann nur zu totalem Chaos führen.
Keine Frage: Der Zulauf, den Pegida, die sogenannte Querfront, AfD und andere rechtspopulistische Gruppierungen haben, ist besorgniserregend. Die vielen Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte sind zu verabscheuen. Und dass unter den Attentätern und Demonstrantinnen Menschen sind, die nicht unbedingt der organisierten rechten Szene angehören, verstört.
Die Mitte definiert sich durch das, was sie nicht ist
Die Sorge um die „gesellschaftliche Mitte“ schlägt dennoch fehl. Weil diese Mitte, so wie sie da angenommen wird, überhaupt nicht existiert. Das beginnt schon bei dem Begriff. Die Mitte definiert sich durch das, was sie nicht ist: Nicht extrem. Weder links noch rechts. Nicht oben, nicht unten. Im gesellschaftlichen Kontext gibt es eine ökonomische und eine politische Mitte. Jeder dieser Begriffe hat und hatte zu unterschiedlichen Zeiten Konjunktur, vor allem aber dann, wenn sie bedroht oder vernachlässigt schien.
Die „politische Mitte“ findet sich als Schlagwort oder Kampfbegriff vor allem in Parteitagsreden, Wahlprogrammen und Politikerstatements. Wissenschaftliche Literatur gibt es kaum zu ihr – sieht man einmal von Hans Sedlmayrs immer mal wieder in den Diskurs eingebrachten konservativen Streitschrift „Verlust der Mitte“ (1948) ab.
Das aktuellste Buch stammt von der Geschäftsführerin des Göttinger Institut für Demokratieforschung, Stine Marg. „Mitte in Deutschland: Zur Vermessung eines politischen Ortes“ heißt es; und schon das Wort Vermessung kündigt an, dass es sich bei der Mitte um einen Ort handelt, der bisher wenig erforscht ist. Eine Terra incognita auf der Landkarte des Politischen, schrieb der emeritierte Politikwissenschaftler Kurt Lenk 2009.
Dennoch hält sich der Begriff hartnäckig im politischen Diskurs. Willy Brandt bezeichnete seine SPD 1972 als die „Partei der Neuen Mitte“. Gerhard Schröder griff den Begriff im 1998 wieder auf, subsumierte unter ihm aber, anders als Brandt, „die hoch qualifizierten und motivierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“. Die Mitte: ein Kollektiv der „Leistungsträgerinnen und Leistungsträger“.
Alle wollen Mitte sein
Auch die CDU beanspruchte für sich immer wieder, die Partei der Mitte zu sein: 1982 deklarierte der neugewählte Kanzler Helmut Kohl sein Regierungsbündnis mit der FDP als die „Koalition der Mitte“. 1999 schrieb die CDU in ihren Erfurter Leitsätzen fest, die „Volkspartei der Mitte“ sein zu wollen. Daraufhin entbrannte ein Kampf um die Mitte, den CDU- und SPD-Mitglieder lautstark in verschiedenen Zeitungen austrugen. Aktuell benutzt vor allem die SPD den Begriff wieder: Auf dem Parteitag vergangenen Freitag, sagte Gabriel, er wolle die „arbeitende Mitte der Gesellschaft“ wieder ansprechen.
Die Mitte in der deutschen politischen Landschaft scheint ein erstrebenswerter Ort zu sein. Einer, an dem sich Arbeiter, Leistungsträgerinnen, das gute Volk tummeln sollen. Ein Ort, an den nicht nur Politiker, sondern auch BürgerInnen wollen – laut verschiedenen Meinungsumfragen verorten sich rund 60 Prozent der Deutschen in der Mitte.
Ihre Funktion ist klar: Sie soll einen Gegenpol zu den extremistischen Rändern darstellen, soll stabilisieren und die Mehrheit versammeln, die in ihr den gesellschaftlichen Konsens aushandelt. Konservative Autoren, wie der Historiker Arnulf Baring, sehen in ihr den Referenzpunkt, der das Normgerüst der Gesellschaft aufbaut – nur, wie genau soll das aussehen?
Wer oder was ist die Mitte? Alt oder Jung? Mit oder ohne Migrationshintergrund? Mehr oder weniger als 40.000 Euro Bruttojahresgehalt? Akademikerin oder Facharbeiter? Stadt oder Land? Schwarz-Grün oder GroKo? Aber Merkel auf jeden Fall? Helene Fischer oder Rammstein? Discounter oder Biomarkt? Pro Asylbewerberunterkunft in der Nachbarschaft oder contra?
Sehen Sie sich als ein Teil von ihr? Und Ihre Nachbarn, Kollegen, Kinder, Eltern? Wenn ja, warum, wenn nein, warum nicht?
Der Wunsch nach einem homogenen Kern
Der Mythos um die vermeintliche Mitte der Gesellschaft speist sich aus dem Bedürfnis nach einer kollektiven Identität. Er gründet auf der Vorstellung, es gäbe einen in sich homogenen Kern in einer Gesellschaft, ein „So sind wir“ oder „Das macht man hier eben so“. Doch dieser Mythos verkennt, dass moderne Gesellschaften komplex sind und sich durch Heterogenität auszeichnen.
Für die Forschung wird die Mitte vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten relevant, nämlich dann, wenn es um Armut und soziale Ungleichheit geht – also um die „Mittelschicht“, bestimmt durch die Höhe des Einkommens, Qualifikation und soziale Stellung im Beruf. Diese Definition allerdings birgt das Problem, dass dadurch Personen zusammengefasst werden, die gar nicht so viel miteinander zu tun haben: Selbstständige mit Pensionären und qualifizierten Lohnarbeitern.
Für ökonomische Analysen mag es nicht so wichtig sein, dass diese drei unterschiedlich leben, denken, bewerten – will man Aussagen über die Erosion der Mittelschicht, also über deren ökonomische Bedrohung machen. Will man aus ihr aber Aussagen über deren Wertekanon, eine angenommene Leitkultur oder politische Konfliktfähigkeit ableiten, wird man scheitern.
Denn die Mittelklasse ist ein Sammelbecken verschiedener Lebensstile, die sich im Laufe der Zeit immer weiter ausdifferenziert haben. Als „robuste Stabilitätszone der Gesellschaft“ könne sie deswegen nicht mehr charakterisiert werden, sagte eine Bertelsmann-Studie aus dem Jahr 2012.
Mitte ist ein normativer Begriff
Das Problem mit dem Konzept Mitte ist, dass es die Maßstäbe ändert. Rassismus, der aus der Mitte kommt, wird als „legitime Angst“ deklariert, die man ernst nehmen müsse. Wenn, wie am Mittwochabend, 250 Menschen durch Oranienburg ziehen und gegen die „Willkommensidiotie“ protestieren, nennt die Regionalpresse die Demonstranten „Asylgegner“.
Mitte, wie SZ, Spiegel oder auch Gabriel den Begriff verwenden, ist nie rein deskriptiv, sondern immer normativ. Mitte heißt: Wir sind die Guten. Antisemiten, Rassisten? Das sind immer die anderen. Dabei ist längst nachgewiesen, dass es in allen gesellschaftlichen Milieus Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Islamophobie, Homophobie und alle weiteren Formen von „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ gibt. Die Mitte war noch nie das stabile, diskriminierungsfreie, „vernünftige“ und „heile“ Normengerüst, als das sie so viele gerne sehen würden.
Wer von Mitte spricht und schreibt, meint damit auch: Radikale Ansichten lehnen wir ab. Egal, ob es um berechtigte linke Gesellschaftskritik geht oder um rechte Propaganda. Damit wird der Begriff der Mitte immer auch Teil jener Extremismustheorie, die die Gesellschaft gegen Kritik immunisiert.
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