Maßnahme gegen Corona-Krise: Weniger Hürden für Hartz IV
Bisher galten beim Antrag auf Grundsicherung strenge Bemessungsgrenzen bei Vermögen. Das Corona-Sozialpaket sieht nun Erleichterungen vor.
Die Tour der Shakespeare Company, für die ihr Mann gebucht war, wurde abgesetzt, genauso wie das Stück an der Comödie in Dresden, für das Pahl selbst ab April engagiert wäre. Pahl weiß, dass es allen freiberuflichen KollegInnen ähnlich geht, egal ob sie vor, auf oder hinter der Bühne arbeiten. Sie hofft daher auf schnelle und unbürokratische Hilfe vom Staat. „Für Essen, Miete und Sozialversicherung.“
Hilfe ist in Aussicht. Am Montag hat das Kabinett beschlossen, den Zugang zu Hartz IV zu erleichtern. Davon könnten Hunderttausende Selbständige und GeringverdienerInnen profitieren. Rückwirkend ab dem 1. März können Leute ohne oder mit zu geringen Einkünften Hartz IV beantragen, ohne dass ihr Vermögen bei der Berechnung berücksichtigt wird. Nur „erhebliches Vermögen“ gilt als ein Ausschlussgrund, heißt es im Gesetzentwurf. Dabei will man sich auf die Selbstauskunft des Antragstellers verlassen.
Die laufenden Einkünfte und die Einkommensverhältnisse des Partners oder der Partnerin werden wie bisher beim Antrag mit einbezogen. Die Regelung gilt für Antragszeiträume zwischen dem 1. März und 30. Juni, bewilligt wird Hartz IV dann erst mal nur für ein halbes Jahr.
Bisher gelten beim Antrag auf die Grundsicherung strenge Freigrenzen bei den Vermögen. Zudem stellt die Frage der Angemessenheit der Wohnung immer wieder eine Hürde dar. Auch hier sieht das Sozialpaket Erleichterungen vor. Wer derzeit einen Neuantrag stellt, bei dem wird nicht mehr überprüft, ob die Miete der AntragstellerIn über einer Bemessungsgrenze liegt und daher als nicht mehr angemessen gilt. Die „tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung“ gelten ebenfalls „für die Dauer von sechs Monaten“ als angemessen, so der Gesetzentwurf.
„Es ist richtig, dass der Zugang zur Grundsicherung vereinfacht wird“, sagt der sozialpolitische Sprecher der Grünen, Sven Lehmann, der taz. Das werde zum Beispiel viele Soloselbstständige und Geringverdienende, die durch die Kurzarbeit unter das Existenzminimum fallen, betreffen. Bei den Maßnahmen gebe es aber eine Leerstelle, „das sind die Ärmsten, die jetzt schon im Regelsatzbezug sind und die höhere Kosten haben“, so Lehmann. „Mit den Schließungen der Schulen und Kitas und anderer Einrichtungen fallen die kostenlosen Essen weg, auch viele Tafeln haben geschlossen, das bringt die Leute in Bedrängnis.“ Die Grünen fordern einen höheren Regelsatz.
Linken-Chefin Katja Kipping spricht sich für einen sofortigen Aufschlag von 200 Euro auf den monatlichen Hartz-IV-Satz aus. „Der Ansatz ist richtig, aber es müsste noch viel mehr passieren“, sagt auch Harald Thomé, Berater beim Selbsthilfeverein Tacheles in Wuppertal. Der Verein fordert Einmalzahlungen für Hartz-IV-Bezieher in der Coronakrise wegen der Tafelschließungen und eine unbürokratische Bewilligung von Computern zum E-Learning für Familien im Hartz-IV-Bezug, da derzeit keine Schulen offen sind.
Nach Berechnungen aus dem Bundessozialministerium könnten bis zu 700.000 der 1,9 Millionen Soloselbstständigen und bis zu 300.000 der 1,6 Millionen Selbstständigen mit Angestellten für eine Antragstellung infrage kommen. Zusammen mit weiteren Anspruchsberechtigten wäre eine Größenordnung von 1,2 Millionen zusätzlichen Hartz-IV-Haushalten infolge der Coronakrise möglich, heißt es in dem Papier zum Sozialpaket. Bei sechs Monaten Leistungsbezug entspräche dies Mehrausgaben von rund 9,6 Milliarden Euro. Davon müssten der Bund 7,5 Milliarden Euro und die Kommunen 2,1 Milliarden Euro tragen.
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