Massenstreik in Argentinien: Die Wut an der Basis
Hunderttausende protestieren gegen die Politik des konservativen Präsidenten Mauricio Macri. Es geht um Lohnerhöhungen und Arbeitsplätze.
Der Protest richtet sich gegen die anhaltenden Entlassungen, den Abbau der Importbeschränkungen, der der heimischen Industrie zu schaffen macht, und gegen die Forderung der Regierung bei den anstehenden Tarifverhandlungen maximal 18 Prozent Lohnerhöhungen zu vereinbaren. Doch was als friedlicher Protestmarsch begann, endete in Tumulten und Bildern von flüchtenden Gewerkschaftsführern.
Abgesehen von einer großen Demonstration zum Anlass des 1. Mai im vergangenen Jahr hat sich der Dachverband der Gewerkschaften CGT seit Macris Amtsantritt im Dezember 2015 zurückgehalten. Im Gegenzug stimmte die Regierung einem Antientlassungspakt zu und billigte Lohnerhöhungen, die fast an die Inflationsrate von bis zu 40 Prozent heranreichten.
Beides ist inzwischen Makulatur. Nachdem die Entlassungen im öffentlichen und privaten Sektor kein Ende nahmen, erklärten die Gewerkschaften den Pakt für gescheitert. Fast zeitgleich kündigte die Regierung die 18-prozentige Deckelung der Lohnerhöhungen an. Das wäre zwar ein Inflationsausgleich, aber die 18-prozentige Inflationsrate für 2017 wurde von der Regierung prognostiziert.
„Die Regierung geht auf Konfrontationskurs“
„18 Prozent sind ein Witz,“ sagt Veronika Vega von der Gewerkschaft der öffentlichen Verwaltungsangestellten UPCN. Um 5 Uhr morgens ist sie mit ihren Kolleginnen in der Provinzhauptstadt Santa Fe losgefahren, jetzt marschieren sie über die große Avenida 9 de Julio in Buenos Aires. Noch hätten die Lohnverhandlungen in ihrer Heimatprovinz Santa Fe nicht begonnen, „aber mindestens 30 Prozent brauchen wir“, sagt die 39-Jährige, hakt sich bei ihren Kolleginnen unter und geht Richtung Ministerium.
Fernando Tancredi marschiert auf der Avenida Corrientes zur Avenida 9 de Julio. Der Gewerkschaftssekretär der Bankangestellten von Chivilcoy in der Provinz Buenos Aires hat andere Zahlen parat. „Die allgemeinen Prognosen sagen schon jetzt 24 Prozent vorher.“ In seiner Branche wurde nach harten Verhandlungen bereits ein Abschluss erzielt. „24,5 Prozent für das Jahr 2017. Und sollte die Inflationsrate darüber liegen, wird nachverhandelt.“
Gewerkschafterin Veronika Vega
An der Ecke Corrientes und 9 de Julio steht Gladys Munro und sieht den Vorbeiziehenden zu. „Die Regierung ist auf Konfrontationskurs gegangen“, sagt die 25-jährige Ökonomiestudentin. Für sie sei Australien das große Vorbild.
Anfang der 1980er Jahre stagnierte dort die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit betrug rund 10 Prozent, die Inflation lag knapp unter 20 Prozent, das Defizit im Staatshaushalt erreichte Rekordniveau. „Also alles so ähnlich wie jetzt in Argentinien“, sagt die Studentin. Dann hätten sie auf der Insel alles umgekrempelt, Arbeitsgesetze geschliffen, eine Steuerreform durchgezogen und weniger auf die Industrie und mehr auf Dienstleistungen und die Veredelung von Rohstoffen gesetzt.
An der Basis brodelt es
Munro setzt ihre Hoffnung auf den konservativen Präsidenten. „Nach einem Jahr Kuscheln mit der Gewerkschaftsführung hat Macri die Umstrukturierung jetzt angepackt.“ Die ersten Arbeitsgesetze seien schon geschliffen, der Abbau der Importschranken bereits im Gang, um konkurrenzunfähige Industriebetriebe zum Aufgeben zu zwingen. „Was jetzt tobt, ist der Kampf um die Lohnkosten.“ Im regionalen Vergleich sei Arbeitskraft in Argentinien für Investoren zu teuer, meint sie. Das alles wüssten auch die Gewerkschaftsführer.
Dass es an der Basis weitaus heftiger brodelt als an der Spitze, trat bei der Abschlussveranstaltung offen zutage. Viele hatten damit gerechnet, nun endlich das Datum für den ersten Generalstreik gegen Macri zu erfahren. Doch die Führung blieb bei ihren vagen Aussagen, und als sich der CGT-Vorsitzende Héctor Daer gar den Versprecher: „Der Streik wird vor Jahresende stattfinden, pardon, vor Monatsende“, schlug die Stimmung gänzlich um, spielten sich tumultartige Szenen ab und besetzten wütende Gewerkschafter die Bühne.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Analyse der US-Wahl
Illiberalismus zeigt sein autoritäres Gesicht
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos