Massenproteste in Armenien: Der gute Hirte
Armeniens Premier Sargsjan ist nach Protesten zurückgetreten. Oppositionsführer Nikol Paschinjan kämpft nun für echten Wandel.
Wer keine Erholung bräuchte, den lade er aber ein, ihm am Wochenende nach Gjumri zu folgen. Armeniens zweitgrößte Stadt im Norden der Kaukasusrepublik, an der Grenze zur Türkei. Mit einer Kundgebung in Gjumri will Paschinjan den Schwung der Protestbewegung in die Provinz tragen.
Wer in Eriwan bleibt, den fordert er auf, keine Straßen mehr mit Autos zu blockieren, die Kennzeichen der Wagen nicht mehr zu verdecken und vorsichtig zu fahren. Schon jetzt gibt sich Paschinjan staatstragend.
Nikol, wie ihn die Armenier vertraut nennen, ist kein Hitzkopf. Ihm ging es zunächst um einen Politikwechsel. Daraus ist jetzt schon fast ein Systemwechsel geworden. Nach zehntägigen Protesten in Eriwan trat Premierminister Sersch Sargsjan am vergangenen Montag zurück. Das kam überraschend, denn niemand hatte mit diesem schnellen Abgang gerechnet.
Unmut über Korruption und Vetternwirtschaft
Erst eine Woche zuvor hatte Sargsjan das Amt des Premiers übernommen, nach einigen Mauscheleien. Zwei Amtsperioden als Präsident hatte er da bereits absolviert. Mehr sah die Verfassung nicht vor. Mit einer Gesetzesänderung, die die Kompetenzen des Präsidenten auf den Premier übertrug, wollte er das Land aus dem anderen Amt heraus aber weiterregieren.
Hunderttausende gingen deshalb aus Protest auf die Straßen. Auch um ihrem Unmut über Korruption und Vetternwirtschaft Ausdruck zu verleihen. Die Welle der Empörung hat die Entscheidungsträger dazu bewogen, den Premier schnell zum Rückzug zu drängen. Viele von ihnen haben nicht nur Amt und Würden zu verlieren, auch ihre Besitztümer stehen bei einem Umsturz auf dem Spiel.
Die herrschende Republikanische Partei hätte das kleine Land in einträgliche Lehnwesen aufgeteilt, sagt Tigran Aleksanyan. Der 29-jährige Volkswirt gehört zu den Demonstranten, die den Protest von Anbeginn mitgetragen haben. „Wir brauchen einen grundlegenden Wandel“, sagt er.
Aleksanyan arbeitet an der Universität in einem Projekt als Fundraiser. Er studierte im Ausland und machte in der EU einen Bachelor-Abschluss. Für Politik interessierte er sich früher nicht so sehr. Die Luft zum Atmen werde in Armenien aber immer knapper. „Wir mussten etwas unternehmen“, sagt er.
Demonstrationen und schlaflose Nächte
Aleksanyan gehört zu einem Kreis Jüngerer, die auf Veränderungen drängen. „Illusionen haben wir keine, dass nach Jahrzehnten ein Neubeginn von heute auf morgen beginnen kann“, sagt er und streicht sich mit der Hand nachdenklich durch den Bart. Er ist müde vom tagelangen Demonstrieren und den vielen schlaflosen Nächten.
Paschinjan ruft unterdessen noch mal zu Mäßigung auf. Unermüdlich erinnert er seine Anhänger, friedlich zu bleiben. Bisher gab es auch keine Gewalt. Die angeschlagenen Politiker aus der aktuellen Führung beruhigt Paschinjan immer wieder: Rache hätten sie nicht zu fürchten, weder Leben noch Eigentum seien in Gefahr. Sie sollten nur die Macht übergeben.
Wenn man Paschinjan zuhört und sein Publikum betrachtet, merkt man: Er ist ein guter Redner. Er heizt den Zuhörern ein, setzt Emotionen frei.
Äußerlich erinnert Paschinjan an einen Hirten aus der rauen Bergwelt des Kaukasus. Er trägt auch deren Uniform – grüne Militärkluft, graugrün geflecktes Tarn-T-Shirt, schwarzes Käppi, auf dem Rücken ein Rucksack mit Wasserflaschen, dazu Bergschuhe. Die letzte Rasur liegt schon länger zurück.
Mit einer spontanen Demonstration mit 10.000 Teilnehmern zog Paschinjan am Mittwoch durch Eriwans Innenstadt. Die Polizei war ratlos und fuhr die Polizeiwagen beiseite, die den Marsch aufhalten sollten.
Auch die Jugend begegnete der Polizei nicht wie Vertretern eines verhassten Systems. „Die Polizei macht sich keine Illusionen, wen sie verteidigt“, sagte ein Demonstrant. Manche Polizisten haben sich öffentlich schon mit der Opposition solidarisch erklärt, auch einige hohe Militärs sollen ihnen gefolgt sein, heißt es.
Paschinjans Team beherrscht die sozialen Medien und ist auf vielen Kanälen und Messengern vertreten. Fällt das Internet aus, können Anweisungen so auch über andere Kommunikationswege übermittelt werden.
Mit einem sanften Kurs gegenüber den offiziellen Machthabern will Paschinjan nach dem Rücktritt des Präsidenten aggressive Gegenattacken seiner Gegner vermeiden. Mancher aus der alten Machtclique würde sich nun überlegen, ob er den Oppositionellen nicht sogar unterstützen sollte, meint der Leiter des Eriwaner „Analysezentrums für Globalisierung“, Stepan Grigoryan. In der unsicheren Übergangszeit trägt das noch zur Verunsicherung bei.
Oppositionsführer Paschinjan hatte bereits am Dienstag seinen Führungsanspruch erklärt und eine „vollständige und friedliche Machtübergabe“ gefordert. Der als kommissarischer Regierungschef eingesetzte Karen Karapetjan sagte daraufhin ein geplantes Treffen mit ihm ab.
Öffentliche Verhandlung über Machtübergabe
Ein Einschwenken in politischen Streitfragen lehnt Paschinjan ab. Am Mittwochabend holte er sich von den Demonstranten auf dem Platz der Republik das Plazet, sich als ihr Kandidat vom Parlament zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen. Am 1. Mai soll die Wahl stattfinden. Verhandlungen über die Machtübergabe, versicherte er, würden öffentlich und im Beisein von Journalisten stattfinden.
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Noch scheint es, als vollziehe sich der Rückzug der alten Machthaber in Raten. Paschinjans Koalitionsbündnis Yerk verfügt im Parlament nur über 9 Stimmen von 109. Die Republikanische Partei besitzt die absolute Mehrheit. Wird sie auf einen Kandidaten verzichten?
Äußerlich zeigt Paschinjan keine Zweifel, dass sein Plan gelingt. Was macht ihn so sicher? Werden die alten Machteliten wirklich zur Seite treten? Und wie verhält sich die Armee in der von Gegnern umlagerten Republik?
Mit Aserbaidschan führt Armenien einen dauerhaften Krieg um die Enklave Bergkarabach. Die Beziehungen zur Türkei sind wegen des Genozids an den Armeniern 1915 äußerst unterkühlt. Und wie wird sich Moskau verhalten? Paschinjan ist kein Vertreter eines Westkurses, die Nähe zu Russland wird er nicht aufkündigen. Dafür hat er der russischen Opposition gezeigt, wie sie sich gegen ein korruptes System zur Wehr setzen kann. Und das mag den Kreml weit mehr beunruhigen als geopolitisches Geplänkel eines 3-Millionen-Einwohner-Landes.
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