Massaker vom 7. Oktober: Fragwürdige Erinnerungskultur
Das Grauen vom 7. Oktober soll in Israel künftig Schmini-Azeret-Massaker genannt werden. Das findet die Bevölkerung allerdings nicht gut.

D ie Knesset hat ein neues Gesetz verabschiedet, das die Leugnung des Massakers vom 7. Oktober 2023 in Israel mit einer Haftstrafe von fünf Jahren belegt.
Mit der Gesetzesinitiative ist eine neue Nomenklatur verbunden. Das Massaker soll nun Schmini-Azeret-Massaker heißen. Benannt nach dem Datum des jüdischen Kalenders, an dem die Lesung des Torazyklus endet. Simcha Rothman, einer der Architekten der umstrittenen Justizreform, sitzt dem zuständigen Knesset-Komitee vor. Er begründet die Umbenennung damit, dass die Hamas bei der Ausübung des Massakers den jüdischen Kalender vor Augen gehabt habe.
Man fragt sich, warum sich ein hochrangiges Regierungskomitee mit der Umbenennung des Massakers befasst, während man es bislang nicht vermochte, eine Untersuchungskommission zu dessen Aufarbeitung zu schaffen. Argumentiert wird damit, dass es schon bald nach dem 7. Oktober zu dessen Verharmlosung und Leugnung kam. Das ist sicher richtig, hat aber wenig mit der israelischen Erinnerungslandschaft zu tun. Der erinnerungspolitische Sinn erschließt sich, wenn man die parallel stattfindenden Versuche von Premierminister Benjamin Netanjahu bedenkt, den Gazakrieg als „war of revival“ zu vermarkten.
Die Memorialstruktur der Benennungen orientiert sich an der aus dem israelischen Kalender bekannten Abfolge von Gedenk- und Feiertagen, welche eine Logik von Katastrophe zur Erneuerung vorgibt. Diese soll nun auf Massaker und Krieg übertragen werden, um deren Bedeutungsgehalt zu verschieben.
Netanjahus Umfragewerte sind noch immer im Keller. Mehr als 60 Prozent der Israelis meinen, er sollte abtreten. Der 7. Oktober lastet wie ein unauslöschlicher Schandfleck auf dem Renommee des Premiers. Die Benennung „Schmini Azeret“ ist der Versuch, das vermeidbare Versagen von Regierung und Armee ins jüdisch-israelische Gedächtnis zu überführen, in dem Massaker und Krieg als Ausdruck eines ewigen Antisemitismus bewertet werden. Bislang findet das in Israel wenig Anklang. Gut so, möchte man meinen.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach Taten in München und Aschaffenburg
Sicherheit, aber menschlich
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Comeback der Linkspartei
„Bist du Jan van Aken?“
Krieg in der Ukraine
Keine Angst vor Trump und Putin
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden